Stuttgart: „Iphigenie en Tauride“

Besuchte Aufführung: 19.5.2019 (Premiere: 28.4.2019)

Rückschau und Traumen

Sie ist keine Unbekannte mehr, Krzysztof Warlikowski s im Bühnenbild und den Kostümen von Matgorzata Szczesniak spielende Neuinszenierung von Glucks Iphigénie en Tauride an der Staatsoper Stuttgart. Aus der Taufe gehoben wurde sie bereits im Jahre 2006 an der Pariser Oper, wo sie schnell Kultstatus erlangte. Der Stuttgarter Intendant Victor Schoner und Dramaturg Miron Hakenbeck hatten die Produktion damals in Paris betreut und sie jetzt nach Stuttgart übernommen, wo sie von dem zahlreich erschienenen Publikum ebenfalls gut aufgenommen wurde.

Amanda Majeski (junge Iphigénie), Renate Jett (alte Iphigénie)

Glucks Oper stellt das letzte Kapitel aus der Familientragödie der Atriden dar und schildert das Aufeinandertreffen von Iphigénie und ihrem Bruder Orest auf Tauris. In Warlikowskis gelungner Inszenierung prallen gekonnt mehre Ebenen aufeinander und bilden eine Einheit. Iphigénie ist die letzte Überlebende ihrer Familie. Als alte Frau hat sie Zuflucht in einem Altersheim gefunden, das das Einheitsbühnenbild bildet. Dort lebt sie zurückgezogen mit vielen anderen bereits stark in die Jahre gekommenen Heimbewohnerinnen. Der nach hinten offene Raum hat seine besten Zeiten hinter sich. Im linken Bereich brachte die Bühnenbildnerin eine Reihe von Duschen an, auf der gegenüberliegenden Seite erblickt man mehrere Waschbecken. Ferner erschließen sich dem Blick ein Sofa, ein Tisch und Stühle. Ein im Vordergrund befindliches Bett dient Iphigénie als Ruhestätte. Den Hintergrund bildet ein eisernes Rolltor. Es ist ein recht trostloser Rahmen, in dem sich das Geschehen abspielt. Man ahnt, dass das Ganze bei Warlikowski keinen guten Ausgang nimmt.

Jarrett Ott (Orest), Elmar Gilbertsson (Pylades)

Der Regisseur versteht sein Handwerk ausgezeichnet. Seine Personenführung ist spannend und stringent und die Zeichnung der zwischenmenschlichen Beziehungen sehr einfühlsam. Oftmals sind Personen auf der Bühne, für die Gluck an dieser Stelle gar keinen Auftritt vorgesehen hat. Mit Tschechow’schen Elementen kann Warlikowski umgehen. Auch Brecht huldigt er nachhaltig, wenn er im vierten Akt den Zuschauerraum in seine Deutung einbezieht und einige Szenen in den ersten Rang des Stuttgarter Opernhauses verlegt. So tötet Pylades den im Rollstuhl sitzenden, tätowierten und lädierten Despoten Thoas, dessen Verhalten hier nicht unverständlich erscheint, in der rechten Seitenloge. Die Göttin Diana und der Chor singen vom Orchestergraben aus. An die Stelle der Taurischen Priesterinnen treten die von ältlichen Statistinnen dargestellten Bewohnerinnen des Altenheimes. Im Programmheft sind die Biographien dieser Stuttgarter Damen abgedruckt. Zwischen diesen und Glucks Oper werden Ähnlichkeiten offenbar. Das echte Alter und das Alleinsein dieser betagten Frauen werden hier einfühlsam thematisiert. Am Ende des zweiten Aktes dürfen sie auch mal Kuchen essen. Geprägt wird die Bühne ferner von einer riesigen Spiegelwand, die die Befindlichkeiten der Protagonisten reflektiert und das Geschehen gekonnt in unsere Gegenwart transferiert. Wenn sich das Publikum auf diese Weise selbst erblickt, wird ihm vom Regisseur zudem der sprichwörtliche Spiegel vorgehalten.

Jarrett Ott (Orest), Statisterie

In diesem Ambiente begegnet die alte, von der Schauspielerin Renate Jett tadellos dargestellte Iphigénie ihrem jüngeren Ich, der von einer Sängerin verkörperten Priesterin auf Tauris. Sie hält eine Rückschau, längst vergangene Erinnerungen und noch nicht überwundene Traumen bahnen sich den Weg an die Oberfläche. Hier kommt ein gehöriger Schuss Sigmund Freud ins Spiel, mit dessen bahnbrechenden Erkenntnissen der Regisseur gut vertraut zu sein scheint. Behände arbeitet er die einzelnen psychologischen Schichten heraus und dringt bis in die Psyche der Handlungsträger vor. Famos beleuchtet er das Unterbewusstsein der beteiligten Personen und breitet dieses vor dem Auditorium aus. Immer wieder überlappen sich dabei die verschiedenen Erzählstränge. Ein besonders gelungenes Bild war, als Iphigénie ihre in dieser Produktion sichtbar werdende, ebenfalls von Statisten verkörperte Familie heraufbeschwört. Hier haben wir es gleichsam mit einem Theater der Erinnerung zu tun, dessen große Eindringlichkeit kaum zu überbieten sein dürfte. Hier hat Warlikowski wahrlich Großartiges geleistet. Und Regieassistentin Jorinde Keesmaat hat das alles perfekt einstudiert.

Amanda Majeski (Iphigénie)

Besonders gut ist dem Regisseur die Zeichnung der Beziehung von Iphigénie und Orest gelungen. Hier war er ganz in seinem Element. Deutlich wird, dass die Geschwister in einer Schicksalsgemeinschaft leben. Beide leiden unter gewaltigen Traumen. Der Nackte, der im zweiten Bild auftaucht, ist als dem Rasen der Erinnyen schutzlos ausgeliefertes Alter Ego von Orest zu verstehen. Nachhaltig stellt Warlikowski die Frage, ob die schlimmen Erfahrungen von Iphigénie und Orest heilbar sind und bejaht diese. Wenn er sich dabei erneut mit Freud’schen Elementen wie Vergessen und Verdrängen auseinandersetzt, ist dies sehr ansprechend. Nichtsdestotrotz misstraut er dem von Gluck vorgesehenen Happy end und lässt die Geschichte tragisch enden. Wenn er zum Schluss Orest und Pylades in der Königsloge des ersten Ranges positioniert, kann man das mehrfach deuten: Die junge Iphigénie hat ihren eben erst vor dem Tode geretteten Bruder nun doch noch verloren. Sie bleibt allein. Und die alte Iphigénie blickt weit in die Vergangenheit zurück. In ihrer Erinnerung erschließt sich ihr noch einmal das ferne Bild der geliebten Menschen. Am Ende stirbt sie. Mit ihrem Tod ist das Geschlecht der Atriden gänzlich erloschen.

Amanda Majeski (Iphigénie)

Gemischte Gefühle hinterließen die gesanglichen Leistungen. An erster Stelle ist hier die junge, gut aussehende Amanda Majeski zu nennen, die die Iphigénie nicht nur mit enormer darstellerischer Kraft überzeugend spielte, sondern mit in jeder Lage warmem, ausgeglichenem, gut fokussiertem und nuancenreichem Sopran auch ansprechend sang. Die Tongebung war durchweg expressiv und differenziert. Insgesamt atmete ihr Rollenportrait große Intensität. Gewaltiges, bestens gestütztes und markant eingesetztes Bassmaterial brachte Gezim Myshketa für den Thoas mit. Der an sich nicht unangenehme Bariton von Jarrett Ott s Orest hätte noch viel schöner klingen können, wenn er im Körper verankert gewesen wäre. Das gilt auch für den flachstimmigen Pylades von Elmar Gilbertsson. Aus demselben Grund vermochte auch Elliott Carlton Hines, der als Aufseher und Skythe besetzt war, nicht sonderlich zu gefallen. Durchschnittlich sang Carina Schmieger die Diana. Eine solide Priesterin und Griechin war Ida Ränzlöv. Bestens präsentierte sich der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart. Ein Sonderlob gebührt dem Ensemble der Statistinnen, die die Bewohnerinnen des Altenheims gaben.

Hier StuttgartIphigénie06f – Statisterie, Renate Jett (alte Iphigénie)

Stefano Montanari am Pult und das versiert aufspielende Staatsorchester Stuttgart loteten die unterschiedlichen musikalischen Schichten von Glucks abwechslungsreicher Partitur grandios aus. Die verschiedenen Elemente der Musik wurden bestens an die Oberfläche gebracht und in den großen Zusammenhang eingebettet. Ausgeprägte dramatische Passagen erklangen ebenso eindrucksvoll wie zarte, lyrische und gefühlvolle Phrasen. Vorbildlich war zudem die wechselnde Dynamik, mit der Dirigent und Orchester den flüssigen, in ausgewogenen Tempi dahinfließenden Klangteppich versahen.

Fazit: Eine Aufführung, die gesanglich nicht in jeder Beziehung überzeugte, aber szenisch und musikalisch sehr ansprechend war.

Ludwig Steinbach, 20.5.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund