Wiederaufnahme am 3.10.2021
Konzertant mit szenischen Andeutungen
Auch in diesem Jahr konnte der österreichische Opernfreund einen Stuttgart-Aufenthalt mit einem Opernbesuch verbinden und hatte damit neuerlich die Möglichkeit, die lokalen Würdigungen der Staatsoper Stuttgart mit seiner „Außensicht“ zu ergänzen. Eigentlich war ja eine Wiederaufnahme der spektakulären Stefan-Herheim-Produktion des Jahres 2009 geplant. Aber die Staatsoper Stuttgart musste vermelden: Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie Anfang des Jahres machten jedoch die notwendigen langfristigen kostümtechnischen Vorbereitungen für diese Wiederaufnahme unmöglich.
Und so wurde es zuvörderst ein Abend des glänzend disponierten und spielfreudigen Staatsorchesters Stuttgart unter Cornelius Meister, der seit dem Jahre 2018 Generalmusikdirektor dieses traditionsreichen Klangkörpers ist.
Das Orchester füllte den gesamten Bühnenraum. Davor auf dem überdeckten Orchestergraben blieb für die Solisten genügend Platz für szenische Andeutungen, deren Spielleitung der Dirigent Cornelius Meister übernommen hatte. Man hatte das Gefühl, dass Cornelius Meister seine Rolle im Mittelpunkt der Publikumsaufmerksamkeit sehr genoß – man verzeihe mir die etwas platte Assoziation: geradezu als tänzelnder „Walzerkönig“ à la Johann Strauß! Das Orchester spielte an diesem Abend unter der expressiven Leitung von Cornelius Meister brillant – selten konnte ich den Orchesterpart dieses Meisterwerks mit all seinem üppigen Klang, all seinen Facetten und mit den vielen fein ausgestalteten Subtilitäten so genießen wie an diesem Abend. Völlig zurecht rief Cornelius Meister alle Instrumentengruppen und Soloinstrumentalisten einzeln zum Schlussapplaus auf – das dauerte fast länger als die Verbeugungen der Gesangssolisten, des Bühnenorchesters, des prächtigen Staatsopernchors samt Kinderchor und der großen Zahl an Kleindarstellern.
Eines ist allerdings anzumerken: speziell in den ersten beiden Akten bestand immer wieder die Gefahr, dass durch diese Aufstellung vor allem an Fortestellen das Orchester allzu sehr in den Vordergrund trat, die Gesangssolisten ein wenig in die Defensive drängte und damit zu fallweisem Forcieren zwang. Im 3.Akt war für mich die dynamische Balance ausgezeichnet. Und noch etwas: man war dankbar, ein bisschen Visualisierung und Aktion zu erleben, obwohl dies natürlich nur ein bescheidener Ersatz für eine gute szenische Aufführung sein konnte.
In den Hauptrollen war Simone Schneider die einzige im Rosenkavalier erfahrene Bühnenpersönlichkeit. Sie hatte schon 2016 bei der Wiederaufnahme der Stefan-Herheim-Produktion die Feldmarschallin gestaltet. Und ihr gelang es am überzeugendsten, die Bühnenfigur der Marschallin nicht nur stimmlich zu vermitteln. Sie verstand es, mit wenigen Gesten und Blicken die jeweilige Situation hervorragend zu gestalten. Mit ihrer dunkel grundierten, technisch perfekt geführten Sopranstimme, mit klarer Artikulation und stimmlicher Farbenvielfalt war Simone Schneiders Feldmarschallin für mich das Zentrum der allesamt sehr guten Solisten. Ihren ungehobelten Vetter Baron Ochs auf Lerchenau gab als Rollendebütant in Stuttgart der 37-jährige David Steffens. Steffens hatte allerdings schon 2013 einmal – als Retter in höchster Not einspringend! – den Ochs am Stadttheater Klagenfurt gesungen. Eigentlich war er in der Premierenbesetzung Notar und Polizeikommissar. Ich schrieb damals über ihn: In den kleineren Rollen fiel der markante und textdeutliche Bass von David Steffens (Notar und Kommissar) positiv auf. In einer der Folgevorstellungen fiel der Ochs kurzfristig aus – der mutige Anfänger David Steffens sprang ein und rettete die Vorstellung! Ich hatte David Steffens in seinen Klagenfurter Anfänger-Jahren wiederholt gehört und immer seine große Begabung registriert. Wen es interessiert, kann hier meine damaligen Kritiken aus den Jahren 2012 bis 2014 nachlesen. Sehr erfreut konnte ich nun die Weiterentwicklung von David Steffens erleben. Mit seinem kerngesund-kräftigen und technisch absolut souverän beherrschten Bass meisterte er stimmlich die Partie samt allen exponierten Höhen und Tiefen geradezu problemlos. Dazu gelang ihm eine ausgezeichnete Textartikulation. Derzeit für mich das einzige Manko: er blieb als Figur recht blass und wenig profiliert (man kann das sogar auf den Szenenfotos erkennen). Aber dieses Manko wird sich durch die Erfahrung legen und er hat absolut das Zeug dazu, ein würdiger Nachfolger des legendären Ochs-Darstellers Richard Mayr zu werden, der so wie Steffens aus dem bayrisch-salzburgischen Grenzraum stammte.
Diana Haller war der Octavian. Auf den ersten Blick war ich etwas überrascht: das ist keine zart-androgyne Erscheinung, wie man sie in dieser Hosenrolle meist erlebt, sondern ein kräftig und resolut auftretender junger Mensch, der sehr schnell mit starker Bühnenpräsenz für sich einnimmt. Und bei näherem Nachdenken passt das auch sehr gut. Der Marchese Rofrano, aus dessen Familie das Hofmannsthal’sche Vorbild für den Octavian stammt, kam aus Neapel nach Wien und Diana Haller stammt aus einer kroatisch-italienischen Familie. Sie ist also durchaus eine sehr schlüssige Verkörperung des wällischen Hundsbubs bzw. wällischen Filous! Soweit ich das recherchieren konnte, war es für Diana Haller ein Rollendebüt – das ist überzeugend gelungen! Stimmlich erlebte man eine kräftig-zupackende Interpretation, absolut sicher in allen Lagen und im Schlussduett mit Sophie auch zu großen lyrischen Bögen fähig. Gratulation!
Auch die österreichischen Sopranistin Beate Ritter feierte mit der Sophie ein Rollendebüt. Sie war das wunderschön-gewohnte Bild der versprochenen Braut – mit Lerchenauerschen Worten weiß mit einem Glanz drauf, wie ich ihn ästimier. Beate Ritter sang die heikle Partie bis in den mezzoforte-Bereich mit ihrer zarten reizvoll timbrierten Stimme sehr präzis. Sobald das Orchester zu dominant wurde, musste sie wohl ein wenig forcieren und dann wurde die Stimmführung zu breit. Beate Ritter vermittelt eine sehr sympathische, allerdings leicht melancholische Ausstrahlung. Die frische aktive Jugendlichkeit, die auch ein Teil der Sophie ist, fehlte mir ein wenig. Wie auch immer: auch das ein überzeugendes Rollendebüt.
Paweł Konik war ein stimmkräftiger, wenig differenzierter Faninal, Kai Kluge ein passabler Sänger mit schönem, noch wenig italienisch-belkanteskem Tenor. Unter den vielen kleinen und kleinsten Rollen fielen mir die stimmlich und darstellerisch profilierte Annina von Carole Wilson und Torben Jürgens als Notar/Polizeikommisar positiv auf.
Beifall und Jubel waren einhellig und kaum endenwollend.
Am Ende noch eine persönlich Bemerkung:
Das 1400 Plätze fassende Stuttgarter Opernhaus durfte nur im Schachbrettmuster und mit jeweils einem freibleibenden Sitz genutzt werden. Soweit ich das überblicken konnte, war auch dieses Platzangebot nicht zur Gänze verkauft. Es gab beim Eingang die nun schon gewohnten strengen Corona-Kontrollen – das ist in Ordnung und verständlich. Was man aber nur schwer verstehen kann: wenn ohnedies nur Menschen mit 3G-Nachweis in das kaum halbbesetzte Haus kommen, man ausreichend Abstand zum nächsten Sitznachbar hat und wenn das große Haus unbestritten eine effiziente Lüftungsanlage hat, dann erschließt sich mir nicht, warum man auch auf dem Sitzplatz eine Gesichtsmaske tragen muss. Das ist bei einer 4 1/2-stündigen Aufführungsdauer schon äußerst mühsam. Ich schließe mich da vollinhaltlich dem letzten Kontrapunkt-Beitrag zu diesem Thema im Opernfreund an!! Jetzt bin ich dankbar, dass ich wieder in Österreich bin. Hier sind Opernhäuser, Theater, Konzertsäle mit vollem Platzangebot für alle, die die 3G-Regel erfüllen, zugänglich und man ist nicht verpflichtet, im Haus eine Maske tragen – siehe bei Interesse die Regeln der Oper Graz, deren großes Haus etwa gleichviel Plätze fasst wie Stuttgart und wo ich morgen Oper ohne Maske genießen kann.
Hermann Becke, 5.10.2021
Fotos: Oper Stuttgart, © Martin Sigmund
Hinweise:
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Weitere Vorstellungen: 17.10 / 30.10. / 7.11.2021
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Probenvideo (etwa 4 Minuten)
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Ein Buchhinweis und Österreich-Bezug: Klaus Eichholz war von 1957 bis 1980 Konzertmeister in Stuttgart und danach Universitätsprofessor an der Kunstuniversität Graz. Heuer ist sein Buch Erinnerungen: Musik, Malerei, Menschen erschienen. In der Ankündigung heißt es: Es ist eine Reise durch die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, gespickt mit spannenden Erlebnissen, wie die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Carlos Kleiber. Eine großartige Lektüre – nicht nur für Musikliebhaber. Ich habe das Buch mit großem Genuss und Interesse gelesen. Allen – vor allem natürlich auch Musikinteressierten in Stuttgart – ist dieses Buch eines prominenten Zeitzeugen der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts sehr zu empfehlen – z.B. hat Klaus Eichholz auch die Zeit von Claus Peymann als Schauspieldirektor in Stuttgart erlebt und beschrieben!