Stuttgart: „Die Walküre“

Gemischte Gefühle hinterließ die Neuproduktion von Wagners „Walküre“ an der Stuttgarter Staatsoper. Das mutete zuerst einmal verwunderlich an, denn ansonsten ist dieses Opernhaus ein Garant für szenisch erstklassische Produktionen. Das begann nicht erst Ende der 1990er Jahre, als der damalige Intendant Klaus Zehelein einen neuen Ring gleich vier verschiedenen Regisseuren anvertraute. Joachim Schlömer (Das Rheingold), Christof Nel (Die Walküre), Jossi Wieler und Sergio Morabito (Siegfried) und Peter Konwitschny (Götterdämmerung) zeichneten in der Ära Zehelein für ausgezeichnete, dramaurgisch gänzlich voneinander unabhängige szenische Sichtweisen verantwortlich, die in die Annalen der Württembergischen Staatsoper eingingen und sich tief in das Gedächtnis einbrannten. Nun wird in Stuttgart seit einiger Zeit an einem neuen Ring geschmiedet. Den Anfang machte vor einigen Monaten ein vielbeachtetes, gelungenes Rheingold in der Regie von Stephan Kimmig. Nun folgte die Walküre. Hier hat Intendant Victor Schoner seinen ruhmreichen Vorgänger Zehelein sogar noch übertroffen, indem er die einzelnen Ring-Teile nicht nur vier verschiedenen Regisseuren anvertraute, sondern für den ersten Abend sogar drei Regie-Teams verpflichtete – eines pro Aufzug. Gegen diese Herangehensweise ist insgesamt nichts zu sagen. Das kann man machen. Die Konfrontation des Publikums mit drei verschiedenen Konzepten an einem Abend machte durchaus Eindruck. Dass die Aufführung szenisch nicht sehr überzeugend geriet, lag ausschließlich an der technischen Seite. Dazu im Folgenden mehr.

Für den ersten Aufzug zeichnete in Personalunion für Regie, Bühne, Kostüme, Licht und Live-Animation-Film die aus Holland stammende Gruppe Hotel Modern verantwortlich. Sie setzte in erster Linie auf bildliche Wirkungen. Die Live-Animationsfilme wurden die ganze Zeit über fleißig bemüht. Am laufenden Band wurden zerstörte Landschaften und abbruchreife Häuser auf eine im Hintergrund befindliche Leinwand geworfen. Erst bei den Winterstürmen mischten sich grüne Sträucher in das ansonsten triste Grau. Die Kriegsbilder rufen Assoziationen an den gegenwärtigen Ukraine-Krieg hervor. Indes hatte Hotel Modern seine Konzeption bereits lange vor Ausbruch dieser aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine geschaffen. Den Ukraine-Krieg kann sie mithin nicht im Auge gehabt haben. Vielmehr haben wir es hier mit den Bildern eines Stellvertreter-Krieges zu tun, den die Menschen hier für Wotan und Alberich führen. Dieser Ansatzpunkt ist trefflich gewählt. Zu Beginn ist auf der Leinwand eine Ratte zu sehen. Auch Siegmund, Sieglinde und Hunding tragen manchmal Rattenköpfe. Die Ratten stehen nach dem Verständnis von Hotel Modern sowohl für Tod als auch für Leben. Sie sind Überlebende in einer lebensfeindlichen Umgebung (vgl. Programmbuch). Auch gegen diese Interpretation ist nichts zu sagen. Der gedankliche Überbau, den Hotel Modern dem ersten Aufzug angedeihen lässt, ist durchaus in Ordnung. Indes hapert es an der szenischen Umsetzung, und das nicht zu knapp. Die Sänger müssen sich mit all ihren starken Emotionen größtenteils auf pures Rampensingen beschränken. Die Personenregie ist schlicht und ergreifend mangelhaft, was den ersten Aufzug zu einer recht langatmigen Angelegenheit werden lässt. Die Statisten, die für die Filme verantwortlich sind, schenken den Wälsungen-Zwillingen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Erst am Ende des ersten Aufzuges geben sie Siegmund und Sieglinde ein Seil in die Hand, mit dem diese das überdimensionale Schwert Notung – dieses steckt hier nicht in dem maroden Eschenstamm in der Mitte der Bühne – vom Schnürboden herabziehen. Es ist schon schade, dass Hotel Modern die Protagonisten derart allein gelassen hat. Hier wurden viele Möglichkeiten verschenkt. Insoweit ist der erste Aufzug szenisch als misslungen anzusehen.

Besser war es um den von Urs Schönebaum (Regie, Raum und Licht) und Yashi (Kostüme) verantworteten zweiten Aufzug bestellt. Hier konnte man vollauf zufrieden sein. Das geistige Konzept stimmte und auch die Personenregie war durchaus flüssig. Urs Schönbaum kommt aus der Schule von Robert Wilson, indes ist seine Arbeitsweise ganz anders als die von Wilson. Bei ihm stammt jede Person aus einer anderen Epoche. Der erste Teil des zweiten Aufzuges ist in einen variablen blauen Nebel gehüllt. Man sieht zu Beginn Wotan als liebevollen Vater. Mit den Kindern Siegmund und Sieglinde steht er an einer Vitrine, in der ein Ast der Weltesche aufbewahrt wird. Auf seine Lieblingstochter Brünnhilde ist er ungemein stolz. Fricka erscheint als elegante Grande Dame, die wohl gerade von einem Fest der High Society zurück kommt und der sich ihr Gatte Wotan zuerst noch überlegen fühlt. Dies ist jedoch nicht lange der Fall. Fricka treibt ihm seinen Chauvinismus ganz schnell aus, wobei sie sich erotischer, aber auch gewalttätiger Mittel bedient. So stößt sie ihn einmal brutal zu Boden. Als sie dem Göttervater den Eid abnimmt, Siegmund zu fällen, geht im Hintergrund der Prospekt mit dem Nebel in die Höhe. Im Folgenden ist die Bühne bis zum Ende des Aufzuges in Dunkel gehüllt. Als Szenographien dienen hier sieben Türme. In Wotans Gefolge befindet sich eine Reihe von Kapuzenmännern, die während der großen Erzählung des Obergottes die Bühne betreten und die Vitrine mit dem Ast abtransportieren. Zwei von ihnen sekundieren bei der Todesverkündigung Brünnhilde als Fackelträger. Bereits zuvor sind die Kinder Siegmund und Sieglinde erneut aufgetreten. Von einem ihnen von Wotan aus Stangen errichteten zeltartigen Bau beobachten sie neugierig, was ihre erwachsenen Alter Egos so treiben. Auch der große Siegmund baut seiner Schwester einen derartigen Unterschlupf, in dem diese während seiner Auseinandersetzung mit Brünnhilde schläft. Am Ende des zweiten Aufzuges ist es nicht Hunding, der Siegmund tötet, sondern Wotan. Wie wild sticht er immer wieder mit einem Messe auf seinen Sohn ein. Anschließend wird auf seinen Befehl hin Hunding von einem der Kapuzenmänner getötet. Dieser Aufzug war szenisch in jeder Beziehung durchaus überzeugend.

Einen argen Rückschlag gab es dann wieder im dritten Aufzug, den Ulla von Brandenburg (Regie, Raum und Kostüme) alles andere als aufregend in Szene setzte. Auch hier war die Personenregie alles andere als ausgeprägt, was ihre Arbeit ausgesprochen langweilig erscheinen ließ. Die wellenförmige Farbsymphonie, die sie auf die Bühne stellte, sowie die verschiedenfarbigen Kleider der Walküren waren zwar schön anzusehen, von einem übergeordneten geistigen Konzept war aber nichts zu merken. Der Regisseurin schien es nur darauf anzukommen, bei den Kostümen jeweils die Komplementärfarben gegenüber zu stellen. Immerhin sind die kleinen Walküren individuell gut gezeichnet. Die große Auseinandersetzung zwischen Wotan und Brünnhilde war indes nicht gerade spannungsgeladen. Am Ende liegt Brünnhilde auf einer der farbigen Wellen, während im Hintergrund ein Double von ihr in einen hellen, in der Luft schwebenden Kreis gebettet wird. Hier ist Frau von Brandenburg ein recht starkes Bild gelungen. Eine Schwalbe macht aber bekanntlich noch keinen Sommer. Den gesamten dritten Aufzug vermochte diese gefällige Impression nicht zu retten, er wirkte ebenfalls szenisch vertan. Insofern hinterließ das Ganze szenisch eher einen zwiespältigen Eindruck.

Auf der musikalischen Seite sah es besser aus. Bei GMD Cornelius Meister befand sich Wagners Werk in bewährten Händen. Den einleitenden Gewittersturm dirigierte er sehr zügig, setzte aber im Folgenden eher auf langsamere, getragene Tempi, die indes einer vorzüglichen Transparenz Vorschub leisteten. Seine Auffassung von Wagners Partitur war nicht schwerer und wuchtiger Art, atmete größtenteils aber eine gute Dramatik. Andererseits gab es auch Passagen, die von Meister relativ leicht ausgedeutet wurden. Darüber hinaus wartete der Dirigent auch mit einer vielfältigen Farbpalette auf, was den von ihm und dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart erzeugten Klangteppich ausgesprochen vielfältig und interessant erscheinen ließ. Zu laut wurde es im Orchestergraben nie, die Sänger deckte Meister an keiner Stelle zu.

Bei den Sängern gebührt die Krone der großartigen Simone Schneider, die eine Sieglinde allerersten Ranges sang. Zu Begeisterung gab schon ihr hervorragend italienisch fokussierter, sonorer und ausdrucksstarker jugendlich-dramatischer Sopran Anlass. Frau Schneider verfügt über alles, was eine Sieglinde braucht. Die fulminanten hohen Jubelausbrüche standen ihr genauso zur Verfügung wie eine satte Altlage. Einfach perfekt waren die stark für sich einnehmende Linienführung und ihr hervorragendes appoggiare la voce. Der stimmliche Glanz, den sie in jeder Lage verbreitete, suchte wahrlich seinesgleichen. Das war eine ganz große Leistung. Auf Frau Schneiders Siegfried-Brünnhilde im Herbst kann man sich schon freuen! Neben ihr überzeugte in der Rolle des Siegmund Michael König. Bei diesem Sänger handelt es sich um ein Musterbeispiel eines guten Heldentenors. Phantastisch ist schon das ausgesprochen dunkle, kräftige Timbre seines vom Bariton herkommenden Tenors. Wenn dann noch eine saubere Phrasierung und eine enorme Ausdrucksintensität dazukommen, ist das Glück vollkommen. Seine stärksten Momente hatte er in der Todesverkündigung. Hier und bei ihrer großen Auseinandersetzung mit Wotan hinterließ auch die Brünnhilde von Okka von der Damerau den größten Eindruck. Die ursprünglich im Mezzo-Fach beheimatete Sängerin hat hier den Ausflug in das hochdramatische Sopranfach bestens gemeistert. Über einer profunden Mittellage platzierte sie prächtige Spitzentöne und legte auch viel Gefühl in ihre Tongebung. Die Wandlung der Walküre von der Kriegerin zur liebenden Frau hat sie trefflich glaubhaft gemacht. Nicht zu überzeugen vermochte dagegen als Wotan der zu hellstimmige Brian Mulligan. Dem noch jungen Sänger fehlt es im Augenblick noch an dem Stamina für diese extrem schwierige Partie. Na ja, wenigstens sang er einigermaßen im Körper. Das ist aber nicht alles. Er wäre gut beraten, den Göttervater nicht allzu oft zu singen. Eine hervorragende Leistung erbrachte Annika Schlicht, die mit voll und rund klingendem, kraftvollem und intensivem Mezzosopran sowie einer markanten Diktion der Fricka ihren ganz persönlichen Stempel aufdrückte. Ein saft- und kraftvoll singender Hunding, der zudem über eine treffliche italienische Gesangstechnik verfügt, war Goran Juric. Im aus Esther Dierkes (Gerhilde), Clare Tunney (Helmwige), Leia Lensing (Waltraute), Stine Marie Fischer (Schwertleite), Catriona Smith (Ortlinde), Linsey Coppens (Siegrune), Anna Werle (Rossweiße) und Maria Theresa Ullrich (Grimgerde) bestehenden Ensemble der kleinen Walküren vernahm man Gutes und nicht so Gutes.

Fazit: Eine Aufführung, die gesanglich und musikalisch lohnend war, von der Regie her aber entbehrlich wirkte.

Ludwig Steinbach, 2.6.2022