Stuttgart: „La Cenerentola“, Gioachino Rossini

Zu einem ungemein heiteren, vergnüglichen Opernabend geriet die Wiederaufnahme von Rossinis La Cenerentola an der Stuttgarter Staatsoper. Deren ehemalige Chefregisseurin Andrea Moses hat Rossinis Oper mit ihren vielfältigen Verkleidungen, Verwicklungen und Verwechslungen in hohem Maße kurzweilig, lebendig und mit zahlreichen lustigen Einfällen garniert geradezu funkensprühend in Szene gesetzt. Frau Moses, die sich insbesondere mit der Umsetzung ernster Inhalte einen Namen gemacht hat, bewies mit dieser hochrangigen Regiearbeit, dass sie sich auch auf heitere Stoffe trefflich versteht. Heiterkeit pur war an diesem Abend angesagt, der nicht zuletzt aufgrund der phantastischen, an keiner Stelle in Langeweile ausartenden Personenregie wie im Fluge verging und beredtes Zeugnis von den hervorragenden Fähigkeiten von Frau Moses ablegte. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag in den Händen von Rebecca Bienek, die ebenfalls gut Arbeit leistete.

(c) Martin Siegmund

Dem Postulat Es war einmal kommt in dieser Inszenierung keine Bedeutung mehr zu. Andrea Moses misstraut dem auf die Gebrüder Grimm beruhenden Märchenstoff und lässt das Ganze kurzerhand in der Gegenwart spielen. Dabei rückt sie aber nicht Cenerentola, sondern den von Werner Pick mit feinen Anzügen versehenen Aufsichtsrat eines Konzerns, in dem auch zwei Frauen – verkleidete männliche Chorsänger – sitzen, in das Zentrum des Geschehens. Der runde Tisch des Konzerns fungiert öfters mal als Spielfläche. Die geschniegelte, von der Regisseurin sehr individuell gedeutete Herrenliga hat mit ernsten Sorgen zu kämpfen, da der Konzern nach dem Tod des alten Chefs führerlos geworden ist. Und ein solches riesiges Finanzunternehmen würde ohne Oberhaupt gnadenlos untergehen. Aus diesem Grund muss auf schnellstem Wege der Erbe, ursprünglich der Prinz Don Ramiro, her. Der erscheint Gott sei Dank umgehend und wird auch schnellstens mit der Voraussetzung für die Berufung zum Konzernleiter konfrontiert: Er muss heiraten. Fraglich ist nur, wie das zu bewerkstelligen ist. Alidoro, der junge Erzieher des Prinzen, weiß Rat. In einer vergnüglichen Stummfilm-Adaption während der Ouvertüre wird der Plan des Philosophen mit Hilfe von auf den Hintergrund projizierten Sprechtexten dem Publikum vor Augen geführt. Frau Moses interpretiert Alidoro gekonnt als Urheber und spiritus rector dieser phantastischen Komödie, die hier als Theater auf dem Theater vorgeführt wird. Dieser Einfall ist zwar nicht mehr neu, aber ein immer noch recht effektives Mittel, das die geistige Nähe der Regisseurin zu Bertolt Brecht offenkundig macht.

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Dazu wird die von Susanne Gschwender hergestellte, leicht heruntergekommene und mit den Interieurs verschiedener Zeitalter eingerichtete Wohnstube von Don Magnifico und seinen drei Töchtern hereingefahren. Diese kommt genau auf der Tafelrunde des Aufsichtsrates zum Stehen und gibt den um den Tisch versammelten geschniegelten Lackaffen die Gelegenheit, das Treiben um Cenerentola gleichsam von einer Zuschauerwarte aus zu beäugen. In der Folge wird das Mädchen, dessen eigentlicher Name Angelina ist, von den strengen Mitgliedern des Konzerns auf seine Tauglichkeit untersucht, die Frau des Konzernerben zu werden und derart die alten Machtstrukturen des Betriebs mit fortzuführen. Echte Herzensgüte ist die Voraussetzung dafür. Über diese verfügt Cenerentola zweifellos. Andererseits ist sie nicht sonderlich erbaut davon, so ohne weiteres aus ihrem gewohnten Dasein gerissen zu werden, auch wenn das für sie einen gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet. Das ausladende rote Kleid sowie die kostbaren Armreife, die hier an die Stelle der Schuhe im ursprünglichen Märchen treten, stören sie nicht sonderlich. Indes fühlt sie sich in ihrem pinkfarbenen Pullover und ihren Jeans wohler und hat Schwierigkeiten, ihr altes Leben aufzugeben. Sie fügt sich nur schwer in die ihr zugedachte Rolle. Viel lieber als schick gekleidet auf irgendwelche Feste der High Society zu gehen sitzt sie daheim und singt immer wieder dasselbe schwermütige Lied, wenn sie nicht gerade von ihren Stiefschwestern und ihrem am Anfang gerade von der Toilette kommenden, skurrilen Vater getriezt wird. Dass die Luft in ihrem Zuhause nicht gerade die beste ist, macht ihr nichts aus. Die Nase von Don Ramiro, der den Mief überhaupt nicht gut verträgt, ist da deutlich empfindlicher. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Sozialwohnung unmittelbar vor Cenerentolas Verwandlung in eine elegante Dame in den Hintergrund verabschiedet. Hastig versucht Angelina noch, ihr geliebtes Heim aufzuhalten, läuft ihm nach und klammert sich verzweifelt daran. Ihre Bemühungen bleiben aber erfolglos. Sie muss sich dem Willen des Strippenziehers Alidoro fügen. Bei Andrea Moses stellt Cenerentola genau wie Don Ramiro lediglich eine Marionette in einem großangelegten Machtspiel um die Sicherung des Fortbestandes des Konzerns dar, der sogar über einen über die Szene fliegenden Hubschrauber verfügt. Wieder einmal erweist es sich, dass Geld die Welt regiert. Den Mächtigen muss man zu Willen sein, auch wenn diese eine fragwürdige Doppelmoral aufweisen und im Laufe des ausgelassenen Betriebsfestes gerne die Hosen fallen lassen und sich mit dem sich gleichfalls so mancher Hülle entledigenden weiblichen Servicepersonal vergnügen. Diese Szene geriet ausgesprochen lustig. Die Mitglieder des Aufsichtsrates dürfen sich nach Brecht’ scher Manier ebenfalls mal unter das Auditorium mischen – genau wie Tisbe, die zu Beginn des zweiten Aktes über eine über den Orchestergraben führende Brücke in das Parkett geht und den noch ihre Plätze einnehmenden Zuschauern kleine Kuchen anbietet.

Dass Angelina in ihrer neuen Haut eher unbehaglich zumute ist, wird erneut spürbar, als sie sich nach ihrer Rückkehr vom Ball ein Schaumbad gönnt. Am Ende trägt sie wieder ihr gewöhnliches Alltags-Outfit. Zwar willigt sie ein, Don Ramiro zu heiraten, an dem prachtvollen Hochzeitskleid und dem riesigen Brautschleier, die ihr offeriert werden, zeigt sie allerdings überhaupt kein Interesse. Zum Schluss präsentiert Frau Moses ein Happy End, hinter das man andererseits ein großes Fragezeichen setzen muss. Cenerentola bleibt sie selbst. Ihre Fremdbestimmtheit wird auch nach der Hochzeit kein Ende nehmen. Sie und ihr geliebter Göttergatte werden auch in Zukunft dem dominierenden Einfluss des über Zauberkräfte verfügenden – das Gewitter wird von ihm heraufbeschworen – eigentlichen Konzernchefs Alidoro unterworfen sein. Man kann durchaus verstehen, dass sie da erst einmal ihr Heil in der Flucht suchen. Diese von der Regisseurin äußerst temporeich vorgeführte Kapitalismuskritik, die auch die Problematik des Entwurzeltwerdens thematisiert, schärft den kritischen Blick für so manche Auswüchse des gegenwärtigen Wirtschaftslebens, in dem individuellen Sehnsüchten und Wünschen keine Bedeutung mehr zukommt und Faktoren des Geschäfts- und Finanzlebens alles und jeden bestimmen. Dass Andrea Moses nicht mit Brachialgewalt, sondern augenzwinkernd und humorvoll den Finger auf diese Wunde der modernen Kapitalismusgesellschaft legt, ist ihr hoch anzurechnen. Insgesamt haben wir es hier mit einer vollauf gelungenen Inszenierung zu tun, die sich hoffentlich noch lange auf dem Stuttgarter Spielplan halten wird.

(c) Martin Siegmund

Sehr zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Von der Indisposition, deretwegen sich Diana Haller als Cenerentola vor der Aufführung ansagen ließ, war nichts zu spüren. Mit dunkel timbriertem, tiefgründigem und bestens italienisch fokussiertem Mezzosopran zog sie sämtliche Register dieser anspruchsvollen Rolle. Sowohl innige lyrische Passagen als auch die brillant dargebotenen feurigen Koloraturen waren bei ihr in den besten Händen. Auch darstellerisch war sie überaus überzeugend. Schauspielerisch ebenfalls eine echte Glanzleistung erbrachte in der Rolle des Don Magnifico Giulio Mastrototaro, der seinem Part mit gut gestütztem, flexiblem und hellem Bass auch gesanglich voll und ganz gerecht wurde. Charles Sy war ein mit angenehmem, trefflich fundiertem und höhensicherem Tenor singender Don Ramiro. Eindrucksvolles Bariton-Material brachte Pawel Konik für den Alidoro mit. In der Partie des Dandini überzeugte sein tadellos intonierender Stimmfachkollege Jarrett Ott. Gut aufgehoben waren Cenerentolas Stiefschwestern Clorinda und Tisbe bei den profund und recht gewandt singenden Sängerinnen Catriona Smith und Maria Theresa Ullrich. Die Mitglieder des Aufsichtsrates gaben die sich mächtig ins Zeug legenden, von Bernhard Moncado einstudierten Herren des Staatsopernchores Stuttgart.

Am Pult waltete Vlad Iftinca auf hohem Niveau seines Amtes. Unter seiner bewährten musikalischen Leitung gelang dem Staatsorchester Stuttgart eine fulminante Leistung. Was da aus dem Orchestergraben tönte, war durchweg ungemein spritzig, frisch und lebendig und unterstütze trefflich das heitere Geschehen auf der Bühne.

Fazit: Eine in jeder Beziehung ungemein ansprechende, hervorragend gelungene und regelrecht preisverdächtige Aufführung, die die Fahrt nach Stuttgart vollauf gelohnt hat und deren Besuch jedem Opernfreund dringend empfohlen wird!

Ludwig Steinbach, 20. Dezember 2022


„La Cenerentola“

Gioachino Rossini

Staatsoper Stuttgart

19. Dezember 2022

Premiere: 30. Juni 2013

Inszenierung: Andreas Moses

Musikalische Leitung: Vlad Iftinca

Staatsorchester Stuttgart