Zu einer beachtlichen Angelegenheit geriet der neue Idomeneo an der Staatsoper Stuttgart. Das Inszenierungsteam um Bastian Kraft (Regie), Peter Baur (Bühnenbild) und Jelena Miletic (Kostüme) hat gute Arbeit geleistet. Gekonnt haben sie Mozarts Opera Seria einen modernen Stempel übergelegt, dabei aber die Grundessenz des Werkes unangetastet gelassen. Der Idomeneo erhält in Stuttgart damit durchaus einen zeitgenössischen Anstrich, wird aber in keinster Weise verfremdet. Auch konventionellen Gemütern könnte diese Produktion gefallen, was nicht zuletzt an den klassischen Kostümen liegen dürfte. Hier ist dem Regisseur eine eindrucksvolle Gratwanderung gelungen.
In höchstem Maße eindrucksvoll muten insbesondere die vielfältigen Schattenspiele an, mit denen Bastian Kraft aufwartet. Gekonnt stellt er den Handlungsträgern ihre eigenen Schatten an die Seite, die oft in geradezu mächtiger Größe erscheinen und schablonenhafte Abbilder der Protagonisten bilden. Auf diese Weise können die beteiligten Personen mit ihren Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten kommunizieren, indem sie diese in die Schatten hineinprojizieren. Die Schatten sind gleichsam eine Projektionsfläche – genau wie die Götter, die hier keine überhöhten Wesen sind, sondern passend im Feuerbach‘ schen Sinne interpretiert werden.
Einen weiteren wesentlichen Punkt von Krafts gelungenem Regiekonzept stellt der Generationenkonflikt dar. Mit viel Einfühlungsvermögen zeigt die Regie die Verantwortung der Elterngeneration für ihre Kinder auf. Wesentlich ist für Kraft die Frage, unter welchen Bedingungen Väter die Macht an ihre Kinder weitergeben können. Dazu bieten ihm Idomeneo und Idamante eine passende Folie. Hier spielt auch der von den Menschen verursachte Klimawandel mit rein. Erst kürzlich wurde in der Presse wieder auf die Folgen des globalen Meeresspiegelanstiegs, der durch das Abschmelzen der Eisschilde verursacht wird, hingewiesen. Diesen Hinweis nimmt Kraft auf und intensiviert ihn sogar noch, indem er im Lauf der Aufführung die Bühne zunehmend unter Wasser setzt. Dies haben die Eltern verursacht und die Kinder müssen darunter leiden. Die Eltern leben auf Kosten ihrer Nachkommen. Ihr Verhalten kann für ihre Nachfahren tödlich enden. Dieser Regieeinfall ist nur zu berechtigt. Vehement stellt Kraft seine Warnung in den Raum und fordert zu einem erheblich verantwortungsvolleren Umgang mit unseren Lebensgrundlagen auf. Hier bekommt die Produktion eine enorme Aktualität.
Idomeneo ist der Repräsentant einer Kriegsgeneration, während Idamante und Ilia für den Frieden eintreten. Ebenfalls deutlich wird die Angst, die Idomeneo vor Idamante fühlt. Die Aufzeigung der verschiedenen Konflikte gelingt dem Regisseur mit Hilfe einer ausgefeilten, psychologisch angehauchten Personenregie vorzüglich. Zeitweilig bekommt man das Gefühl, dass der kretische König seinen Sohn tatsächlich töten will und das durch seinen Schwur zu legitimieren versucht. Andererseits spürt man auch bei Idamante zeitweilig den Wunsch, seinen Vater zu töten. Hier huldigt Kraft stark dem Freud‘ schen Ödipus-Komplex. Verdrängtem und Unausgesprochenem kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang erhält Sigmund Freuds Psychologie des Unbewussten zentrale Relevanz. Ebenfalls lassen es die beteiligten Personen an der notwendigen Selbstreflexion fehlen, was es ihnen erschwert, ihre Verhaltensweisen kritisch zu hinterfragen und sich einen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Demzufolge hält der Regisseur den Handlungsträgern im wahrsten Sinn des Wortes den Spiegel vor. Dem Happy End misstraut er. Auch bei der Herrschaft der nächsten Generation, also von Idamante und Ilia, werden Probleme und Konflikte nicht ausbleiben. Mit diesem Konzept von Kraft lässt es sich leben. Wieder einmal hat er nachhaltig unter Beweis gestellt, dass er sein Handwerk versteht.
Am Pult erwies sich Cornelius Meister als versierter Sachwalter Mozarts. Seine weder romantisch noch schroff anmutende, sondern eher klassische Auffassung von Mozarts Partitur hatte viel für sich. Zusammen mit dem trefflich disponierten Staatsorchester Stuttgart erzeugte er einen vorwärts drängenden, frischen und markanten Klangteppich, der sich obendrein durch große Spannung und spezifische Coleurs auszeichnete.
Größtenteils auf hohem Niveau bewegten sich die sängerischen Leistungen. Eine Ausnahme davon bildete leider gerade die Titelfigur: Jeremy Ovenden sang den Idomeneo mit sehr dünnem, jeder soliden Körperstütze abholdem Tenor. Eine vokale große Ausdrucksintensität der Stimme musste unter diesen Umständen auf der Strecke bleiben. Der Idamante, sonst ein Mezzosopran oder Tenor, war in Stuttgart mit dem Sopran Anett Fritsch besetzt. Und das nicht schlecht. Sie verfügt über einen klangvollen, substanzreichen lyrischen Sopran, der in den Duetten mit der beherzt, sonor und tiefgründig singenden Iia von Lavinia Bini einen homogenen Gesamtklang bildete. Zum ersten Mal in einer Sopran-Rolle zu hören war die Mezzosopranistin Diana Haller. Sie gab die Elettra mit bestem Stimmsitz, sehr rasant und fulminant und stellte damit ihre Eignung für das dramatische Fach nachhaltig unter Beweis. Auf eine weitere Partie von ihr demnächst, die Fremde Fürstin in Dvoraks Rusalka, kann man schon gespannt sein. Bahnt sich hier vielleicht ein Fachwechsel an? Mit klangvollem, substanzreichem Tenor wertete Charles Sy die kleine Partie des Arbace auf. Sonor gab Aleksander Myrling die Stimme Neptuns. Dagegen fiel Eleazar Rodriguez‘ Oberpriester Neptuns etwas ab. Mächtig ins Zeug legte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.
Ludwig Steinbach, 4. Dezember 2024
Idomeneo
Wolfgang Amadeus Mozart
Staatsoper Stuttgart
Premiere: 24. November 2024
Besuchte Aufführung: 2. Dezember 2024
Inszenierung: Bastian Kraft
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart