Stuttgart: „Iphigénie en Tauride“

Premiere am 28. 4. 2019

Familienaufstellung im Spiegelkabinett

Auch in diesem Jahr hatte der österreichische Opernfreund, der seit Jahren regelmäßig über Opernaufführungen des im Süden gelegenen Alpe-Adria-Raums (Steiermark, Kärnten, Slowenien, Friaul, Venetien) berichtet, besonderes Glück – er konnte seinen Stuttgart-Aufenthalt mit dem Besuch einer Premiere verbinden und hatte damit neuerlich die Möglichkeit, die lokalen Würdigungen der Oper Stuttgart mit seiner „Außensicht“ zu ergänzen.

Der Chefdramaturg des Hauses konnte bei der Stückeinführung mit Stolz darauf hinweisen, dass es die dritte Premiere (nach Der Prinz von Homburg und Nixon in China) innerhalb von sechs Wochen ist – und das sei wohl „rekordverdächtig“. Diesmal handelte es sich um eine Produktion der Opéra national de Paris, die schon im Jahre 2006 im Palais Garnier Premiere gehabt hatte und die nun 13 Jahre später in Stuttgart eine Neueinstudierung erlebte.

Laut Presseinformation avancierte die Produktion in der Regie von Krzysztof Warlikowski und in der Ausstattung von Małgorzata Szczęśniak innerhalb kurzer Zeit zum Kult. Es überrascht nicht, dass sie nun in Stuttgart neu einstudiert wurde, haben doch der seit dieser Saison neue Stuttgarter Intendant Viktor Schoner und sein Dramaturg Miron Hakenberg schon die Pariser Produktion künstlerisch betreut. Übrigens war auch die Schauspielerin Renate Jett ebenfalls schon bei der Pariser Premiere dabei.

Die Stuttgarter-Zeitung schrieb am Tag der Premiere: Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski versammelt eine Art von Frauen-Spiegelkabinett rund um seine Hauptfigur – und tatsächlich: hinter, zwischen, ja manchmal auch vor diesen Spiegelwänden bewegt sich den ganzen Abend die Atridenfamilie – Agamemnon in Generalsuniform, die junge Braut Iphigenie, Elektra, Chrysothemis, Achill – überdeutlich wird der Muttermord zelebriert: der nackte Orest reißt Klytemnästra die Kleider vom Leib und bringt sie brutal um. Als simpler Geist könnte man vermeinen: das (seit einiger Zeit weit verbreitete und beliebte) psycho-soziale Instrument der Familienaufstellung führt bei den Atriden letztlich zur Erlösung…

Zur Inszenierung liest man in der Nr.15 des Magazins der Staatstheater Stuttgart (März – Mai 2019) in einem Beitrag über die Ausstatterin (und studierte Psychologin und Philosophin) Małgorzata Szczęśniak:

Alte Damen, die den Tag im Morgenmantel verbringen. Ein Raum mit Betten, Tisch und Sessel, an der Wand eine Reihe von Waschbecken. – Es ist ein Altenheim, in dem diese Iphigénie an Tauride spielt….eine Figur sticht durch ihren goldenen Zweiteiler heraus: Iphigénie selbst, die antike Heldin. Immer wieder erinnert sie sich an ihre Jugend, daran, wie sie von ihrem Vater Agamemnon für den Krieg gegen Troja geopfert wurde.“ Am Ende des 2.Aktes – als Iphigénie die Trauerfeier für den vermeintlich toten Bruder begeht – sitzen die alten Damen vor der die Bühne ausfüllenden Spiegelwand, in der sich das Publikum selbst sieht, und verspeisen ungerührt ihren Nachmittagskuchen. Auch wenn sich der Bezug zu Glucks Musik nicht unbedingt erschließt – es ist zweifellos ein Bild, das sich in seiner kühlen Trostlosigkeit einprägt.

Auch die zentrale Figur der Iphigénie wird gespiegelt bzw. verdoppelt – im übertragenen wie im tatsächlichen Sinne. Iphigénie wird sowohl von der Sängerin Amanda Majeski als auch von der seit langem mit Stuttgart und mit dem Regisseur verbundenen Schauspielerin Renate Jett verkörpert (an deren Anfänge im Schauspielhaus Graz ich mich noch gut erinnere). Einmal ist die Sängerin die alte, sich zurückerinnernde Iphigénie im goldenen Zweiteiler, dann wieder die in Rot oder Schwarz gekleidete junge Frau – umgekehrt tritt auch die Schauspielerin in beiden Rollen auf – und natürlich begegnen einander auch die beiden Figuren. Das ist durchaus eine einprägsame und mit präziser Personenführung gestaltete Lösung, die einem im Gedächtnis bleibt.

Insgesamt erlebte man eine Inszenierung, für die meiner Meinung nach das zutrifft, was eine Kritik über die letzte Warlikowski/ Szczęśniak-Produktion in London (Aus einem Totenhaus, 2018) berichtet hatte: ….eine zeitgenössisch nüchterne, wenig emphatische, artifiziell überhöhte Sichtweise – viele Details gehen in dichten Wimmelbildern unter, die absichtsvoll Hauptfiguren an den Rand drängen….. Auch dem, was schon in der Nachtkritik der Stuttgarter Nachrichten zu lesen war, kann ich mich anschließen: Die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski spielt zwar mit wirkungsvoll beleuchteten Rück- und Durchblicken, kommt aber kaum je über gefällig Dekoratives hinaus.

Wenden wir uns also dem musikalischen Teil zu. Da gibt es viel Positives zu vermelden, wenn ich auch zwei grundsätzliche Einwände habe:


Das Staatsorchester Stuttgart spielte in großer Besetzung auf modernen Instrumenten. Das führte in allen dramatischen Passagen dazu, dass sich die Solisten nur mit Mühe behaupten konnten.


Der Staatsopernchor Stuttgart war im Orchestergraben hinter dem Orchester platziert und wurde über Lautsprecher eingespielt. Damit fehlte die unmittelbare Wucht des Chorklangs, die sich dem Publikum optimal nur dann vermittelt, wenn der Chor auf der Bühne steht. Die gewählte Lösung ist aber nicht nur aus musikalischen Gründen zu bedauern, sondern natürlich auch aus szenischen. Gerade in einer griechischen Tragödie den Chor nicht sichtbar zu machen, sondern bloß durch die Statisterie und durch Videos zu bebildern, ist ein entscheidendes Manko – besonders, wenn man wie in Stuttgart über einen der erfolgreichsten Opernchöre Europas verfügt, der diesmal von Bernhard Moncado präzis und klangschön einstudiert war.

Die Solistenbesetzung war durchwegs gut bis ausgezeichnet. Das Freundespaar war mit dem amerikanischen Bariton Jarrett Ott (Oreste) und dem isländischen Tenor Elmar Gilbertsson (Pylade) stimmlich und darstellerisch sehr überzeugend besetzt. Die kleineren Rollen (Carina Schmieger – Diane; Elliott Carlton Hines – Aufseher; Ida Ränzlöv – Priesterin) waren mit Mitgliedern des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Stuttgart stimmlich adäquat besetzt. Sehen konnte man sie ja erst beim Verbeugen – schade, dass nicht einmal das Eingreifen der dea ex machina Diane szenisch gestaltet wurde, sondern bloß durch drei herabsinkende, nüchterne Neon-Leuchten angedeutet wurde. Gezim Myshketa war mit seinem rauhen, guttural gefärbten Bassbariton ein gebührend bedrohlicher Thoas, der dann zuletzt in der Proszeniumsloge von Pylade ermordet wird, bevor sich die beiden Freunde Oreste und Pylade in der Mittelloge vereinen.

Die 34-jährige amerikanische Sopranistin Amanda Majeski gab als Iphigénie ein ausgezeichnetes und begeistert aufgenommenes Debut in Stuttgart. Sie verfügt über ein warmes, individuell gefärbtes Material, das in allen Lagen ausgeglichen geführt wird, und sie überzeugt auch darstellerisch mit ihrer schlank-hochragenden Heroinenfigur. Eine Einschränkung muss allerdings bei allen Solisten gemacht werden: die Artikulation des französischen Textes war allzu unklar und verwaschen – wohl nicht zuletzt deshalb, weil alle Solisten merklich bemüht waren, die Resonanz ihrer Stimmen zu vergrößern und zu weiten, um sich dem üppigen Klang anzupassen, der aus dem Orchestergraben drang. Da ging ganz einfach die klare Sprachartikulation verloren.

Und damit sind wir bei jenem Klangbild, das an diesem Abend der Dirigent Stefano Montanari vermittelte: das war nicht das, was ich eigentlich aufgrund seiner Herkunft als erfahrener Barockgeiger und ausgewiesener Spezialist für Alte Musik erwartet hatte. Das war kein schlank-plastischer Orchesterklang – es war eher ein bereits an Berlioz orientierter üppig-farbenreicher Orchesterteppich, der hier ausgebreitet wurde – mit kräftig zupackenden dramatischen Passagen, aber auch mit sehr schön und breit angelegten lyrischen Stellen. Und man muss durchaus einräumen: es ist dies für ein großes Haus, wie es die Stuttgarter Oper nun einmal ist, und für ein großes Orchester, das auf modernen Instrumenten spielt, eine vertretbare Lösung. Übrigens gibt es ja auch bei den verfügbaren CD-Aufnahmen der Iphigénie an Tauride die ganze Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten: von Ricardo Muti über John Elliott Gardiner zu Marc Minkowski. Ich persönlich neige bei der prachtvollen Gluck-Musik eher zu einer schlankeren und klar artikulierten Interpretation, aber die Stuttgarter Aufführung hat zweifellos ihre berechtigten Meriten. Sie orientierte sich wohl eher an jenem Klangbild, das Hector Berlioz im Jahre 1821 mit einem 80-köpfigen Orchester in Paris gehört hatte. Dieses Hörerlebnis hatte Berlioz zum begeisterten Gluck-Anhänger gemacht. Spezialisten werden wissen, ob die Orchesterbesetzung bei der Uraufführung im Jahre 1779 auch so groß war.

Das Premierenpublikum spendete reichen, bei den Solisten durchaus abgestuften Beifall – Jubel und Bravorufe für Amanda Majeski und deutliche Zustimmung für Jarrett Ott und Elmar Gilbertsson. Das Regieteam wurde zwar reserviert, aber ohne jegliche Missfallensbekundungen akklamiert. Stuttgart ist jedenfalls für diese Produktion zu danken, werden doch die französischen Gluck-Opern im deutschen Sprachraum viel zu selten aufgeführt. Daher sei auf die nächste Neueinstudierung im Juni ausdrücklich hingewiesen: im Théâtre des Champs-Elysées mit dem Balthasar-Neumann-Chor-und-Ensemble unter Thomas Hengelbrock

Hermann Becke, 30. 4. 2019

Fotos: Oper Stuttgart, © Martin Sigmund

Hinweise:

– Weitere Vorstellungen: 2.,5.,10.,12.,14.,19.,30.Mai 2019

Trailer (rund 1 Minute) zur Produktion