Stuttgart: „Jenůfa“, Leoš Janáček

Seit 2015 ist Calixto Bieitos Inszenierung von Janáčeks Jenůfa an der Staatsoper Stuttgart nicht mehr zu sehen gewesen. Jetzt hat sich die Opernleitung entschlossen, diese hervorragende Produktion endlich wieder einmal auf den Spielplan zu setzen. Das war eine gute Entscheidung. Dieser Abend geriet zu einem in jeder Beziehung phantastischen Opernabend! Dazu hatte Rebecca Bienek als szenische Leiterin der Wiederaufnahme großen Anteil.

(c) Martin Sigmund

Bieitos Regiearbeit ist in hohem Maße spannend. Sowohl der Anfang als auch das Ende wird von ausgelassenem, befreiendem Gelächter geprägt. Zu Beginn bricht Barena in herzhaftes Lachen aus. Jenufa und Laca tun es ihr am Ende gleich. Hier handelt es sich um eine heitere Klammer, die einen hoch ernsten Rahmen umschließt. Diesen versteht der katalanische Regisseur trefflich auszufüllen. Er und seine Bühnenbildnerin Susanne Gschwender siedeln die Handlung nicht in einer in den mährischen Bergen liegenden Mühle an, sondern verlegen das Ganze gekonnt in eine nach Entwürfen von Gideon Davey gestaltete Fabrik. Der Familienbetrieb der Familie Buryja, in dem nur noch alte, auf einem großen Haufen ausgebreitete Kleider von Jenufa und ihrer Großmutter offenbar zu Spendenzwecken aussortiert und von Laca in einem Fabrikwagen weggefahren werden, hat schon bessere Tage gesehen. Er steht augenscheinlich unmittelbar vor der Pleite. Hier gibt es nicht mehr viel zu tun. Da können Barena und Jano die Arbeit auch mal für eine Partie Tischtennis unterbrechen. Im zweiten Akt ist die Fabrik geschlossen. Die Küsterin und Jenufa haben hier nun ein ideales Versteck gefunden. Im dritten Akt erstrahlt der jetzt über eine neue Inhaberin verfügende Betrieb in neuem Glanz. Der Richter und seine Familie haben ihn zu einer riesigen Textilmanufaktur umfunktioniert und der Tochter Karolka zum Geschenk gemacht. Dass diese Julia Timoschenko nachempfunden ist, setzt hinter die Zukunft des Unternehmens auch weiterhin ein deutliches Fragezeichen. Die an Nähmaschinen sitzenden Arbeiterinnen müssen Rekordarbeit leisten. Die alte Buryja, die Küsterin und Jenufa sind in dem Betrieb, der einst ihnen gehörte, nur noch einfache Angestellte. Sie haben einen deutlichen sozialen und gesellschaftlichen Abstieg erlitten. Die Sippschaft des Richters dagegen erwirtschaftet nun aus dem Betrieb einen Gewinn nach dem anderen. Mit diesen hohen Einnahmen wird sicherlich nicht nur das von Ingo Krügler stammende, hübsch anzusehende blaue Outfit Karolkas finanziert, sondern in gleicher Weise die Alkoholsucht der Richtersfrau. Letztere bemerkt vor lauter Trunkenheit nicht einmal, dass ihr Ehemann total auf eine der Fabrikarbeiterinnen – ursprünglich die Schäferin – steht und sich mit dieser irgendwann in eindeutiger Absicht durch eine Tür im Hintergrund davonmacht.

(c) Martin Sigmund

In diesem Ambiente gelingt Bieito hochkarätiges Musiktheater, wozu auch seine erstklassige Personenregie einen gehörigen Teil beiträgt. Exzellent wirken seine vielfältigen Charakterzeichnungen. Er stellt wirklich echte Menschen mit allen ihren Nöten und Konflikten auf die Bühne und nicht nur leere Figurenhülsen. Sein vorrangiges Interesse gilt dabei der Küsterin, von der er ein ausgeprägtes, stark unter die Haut gehendes Psychogramm entwirft. Die innere Zerrissenheit der nach dem Mord an Jenufas Baby von starken Schuldgefühlen geplagten und schier dem Wahnsinn verfallenden Küsterin schildert er auf extrem drastische und eindringliche Weise.

Dabei spart er jede Art von Provokationen aus. Das bedeutet aber nicht, dass es auf der Bühne nicht manchmal sehr extrem zugeht. So mündet im ersten Akt das von der Mühlenbelegschaft gefeierte Fest in Stewas Vergewaltigung der von ihm schwangeren Jenufa. Wenn dieser im zweiten Akt dann auch noch die vor ihm demütig im Unterkleid flehend auf dem Boden liegende Küsterin gnadenlos mit Fußstritten malträtiert, ist das schon ein ausgesprochen krasses Bild. Beklemmend wirkt in der Umbauphase zwischen dem zweiten und dem dritten Akt das eingeblendete Babygeschrei, das man als Ausdruck des schlechten Gewissens der Küsterin deuten kann. Der Säugling hat im zweiten Akt keine Chance, dem mörderischen Zugriff von Jenufas Ziehmutter zu entkommen. Sie erschlägt den Kleinen auf offener Bühne und verbirgt seine Leiche unter ihrem Kleid. Insgesamt haben wir es hier mit einer phänomenalen Inszenierung von enormer atmosphärischer Dichte und großer Eindringlichkeit zu tun, die einen ganz in ihren Bann zieht. Das ist eindeutig eine von Bieitos besten Regiearbeiten!

(c) Martin Sigmund

Das Dirigat von Marko Letonja zeichnete sich durch einen bisweilen etwas harten und schroffen Klang aus. Das ist indes kein Wunder, denn in Stuttgart wurde die Brünner Ur-Fassung des Werkes gespielt, die im Gegensatz zur späteren Prager Edition durch keinerlei romantischen Einfluss verfälscht ist. Darüber hinaus erzeugte der Dirigent mit dem trefflich disponierten Staatsorchester Stuttgart große Spannung und ein Maximum an Klangfarben. Daraus resultierte ein sehr differenzierter und nuancenreicher Klangteppich.

Phantastisch waren die gesanglichen Leistungen. Fast alle Partien waren mit Rollendebütanten besetzt, die allesamt vorbildlich im Körper sangen. Als Jenufa brillierte mit perfekt fokussiertem, elegant geführtem und in jeder Lage ausgeglichen wirkendem Sopran Esther Dierkes. Eine schon darstellerische Glanzleistung erbrachte Rosie Aldridge in der Rolle der Küsterin, die sie mit sauber durchgebildetem, pastosem Mezzosopran und tadellosen Spitzentönen auch großartig sang. Einen voll und rund klingenden, dabei recht kraftvollen Tenor brachte Matthias Klink für den Laca mit. Schauspielerisch gab Elmar Gilbertsson dem Stewa ein rollengerecht nicht gerade sympathisches Profil. Vokal war er mit seinem gut sitzenden, kräftigen Tenor recht überzeugend. Helene Schneiderman, deren Karolka aus der in den 1980 Jahren über die Stuttgarter Bühne gegangenen Vorgängerinszenierung des Werkes man noch in angenehmer Erinnerung hat, gab eine solide Alte Buryja. Den Alten sang sehr sonor und ausdrucksstark Shigeo Ishino. In nichts nach stand ihm der profund singende Richter von Andrew Bogard. Mit köstlichem Spiel und solidem Mezzosopran wertete Maria Theresa Ullrich die kleine Partie der Richtersfrau auf. Lucia Tumminellis Karolka klang nach mehr. Jasmin Hofmann (Schäferin), Itzeli Jauregui (Barena) und Emilie Kealani (Jano) gefielen mit ordentlichen Stimmen. Karin Horvat (Tante und 1. Stimme) und Kristian Metzner (2. Stimme) rundeten das homogene Ensemble ab. Gut gefiel wieder einmal der von Bernhard Moncado trefflich einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

Fazit: Ein unvergesslicher Musiktheaterabend, dessen Besuch dringendst empfohlen wird! Wieder einmal hat sich trotz des schlechten Wetters die Fahrt nach Stuttgart mehr als gelohnt!

Ludwig Steinbach, 14. November 2023


Jenufa
Leoš Janáček

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 14. Januar 2007
Besuchte Vorstellung: 12. November 2023

Inszenierung: Calixto Bieito
Mitarbeit Regie: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Marko Letonja
Staatsorchester Stuttgart