Stuttgart: „Le nozze di figaro“

Besuchte Aufführung: 21.12.2019 (Premiere: 1.12.2019)

Ikea-Betten als austauschbare Massenware

Im wahrsten Sinn des Wortes zu einer Bettgeschichte mutiert die Neuproduktion von Mozarts Le Nozze di Figaro an der Stuttgarter Staatsoper. Im Zentrum der Inszenierung von Christiane Pohle, für die Natascha von Steiger das Bühnenbild und Sara Kittelmann die Kostüme beisteuerten, steht das Bett. Das Regieteam hat das muntere Geschehen in die Bettenabteilung des Möbelhauses Ikea verlegt. Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man zahlreiche Betten, deren Qualität von den im Stil der 1960er Jahre gekleideten Beteiligten einer eingehenden Prüfung unterzogen wird. Sind die Betten, die man hier als Sinnbild des ehelichen Zusammenlebens verstehen kann, zu hart oder zu weich? Wie liegt es sich darin? Sind sie geeignet, darin sexuellen Liebesspielen zu frönen? Die Betten befinden sich in mehreren nebeneinander gelegenen kleinen Räumen. Deren Wände sind bewegbar und auch die Ausstattung der Räume unterliegt im Laufe des Abends Wandlungen. Der persönliche bzw. der gemeinsame Lebensentwurf soll sich in der zusammen auszusuchenden Wohnungseinrichtung spiegeln. Die gemeinsame Zukunft, von der wir noch nichts wissen, soll bereits möbliert werden (Christiane Pohle im Programmbuch). Dem intimen Charakter der Betten korrespondiert die Öffentlichkeit des Ikea-Hauses. Eine Privatsphäre gibt es in diesem Rahmen nicht. Die Betten erscheinen als austauschbare Massenware und sollen nach Auskunft von Frau Pohle im Programmbuch Schutz vor der eigenen existentiellen Unberechenbarkeit bieten. Dem Symbolhaften der Betten gilt ihr Interesse. Sämtliche Handlungsträger befällt angesichts der Ikea-Entwürfe eine ausgemachte Skepsis und Unruhe. Die Räume, in denen sich die Betten befinden, werden jeweils zu kleinen, untergeordneten Bühnen, die darauf warten, bespielt zu werden.

Michael Nagl (Figaro), Susanna

Entsprechend den zahlreichen Betträumen findet hier eine Vervielfältigung der Charaktere statt. Alter Egos und Doppelgänger der Protagonisten mischen sich zeitweilig rege in das heitere Spiel. Die Regisseurin sieht die verschiedenen Personen als mosaikartige Zusammensetzung von Individuen, die ihr persönliches Glück suchen. Hier kommt der Kapitalismusgedanke mit ins Spiel, dessen Wirken sich die Beteiligten nicht entziehen können. Das Ganze ist ganz und gar modernen Zeiten verhaftet. Standesunterschiede gibt es in Frau Pohles Interpretation nicht, ein Unterschied zwischen Adel und Bürgertum wird von der Regisseurin nicht gemacht. Herrschaft und Dienerschaft sind hier gleichermaßen bürgerlich. Wenn beispielsweise Graf Almaviva bei seinem ersten Auftritt im Pyjama erscheint, ist er durch nichts von Menschen der unteren Schicht zu unterscheiden. Als er im zweiten Akt mit einem Gewehr bewaffnet auftritt und noch im Off auch einige Male Schüsse abfeuert, wird seine etwas rabiate Natur offensichtlich. Offensichtlich sind die Männer hier nicht die Herren der Schöpfung, Das Heft tragen die starken Frauen in der Hand, insbesondere Susanna.

Sarah-Jane Brandon (Contessa Almaviva)

Das soziale Gefälle zwischen den beteiligten Personen kommt in dieser Produktion leider nicht gut zum Ausdruck. Dadurch wird dem Ganzen etwas von seiner revolutionären Sprengkraft genommen. Bleibt die Frage, wie es den Protagonisten gelingt, auf Dauer zusammenzuleben. Der utopische Gedanke besteht in der Solidarität freier Individuen (vgl. Programmbuch). Indes sind die Beziehungen untereinander nicht immer leichter Natur. Wenn in den Bildschirmen der verschiedenen Bettenzimmer, auf denen zeitweilig auch der Dirigent erscheint, manchmal Quallen zu sehen sind, erweist es sich, dass es andere Existenzformen gibt, mit denen es leichter ist, Beziehungen einzugehen als mit Menschen (vgl. Programmbuch). Mit einem gehörigen Schuss Sigmund Freud wartet die Regisseurin auf, wenn sie gut psychologisch aufzeigt, dass in den einzelnen Beteiligten auch viel von den jeweils anderen steckt. Es finden in hohem Maße Identitätsverschiebungen statt. Das wird beispielsweise deutlich, wenn Figaro bei seiner Arie Non piu andrai, farfallone amoroso zuerst nicht Cherubino ansingt, sondern den Grafen. Das war ein guter Einfall seitens der Regie. Ebenfalls wird deutlich, dass Figaro Charakterzüge von Almaviva aufweist. Um Identitätsprobleme geht es auch zu Beginn des vierten Aktes. Nachdem Babarina ihre Arie gesungen hat, fällt der Vorhang. Auf ihn wird anschließend, während die Musik schweigt, ein ziemlicher langer, oft heiter anmutender Brief Mozarts an sein Bäsle projiziert. Anschließend kann man dieselbe Arie noch einmal vernehmen, dieses Mal vom Band. Zunehmend geraten die verschiedenen Betten-Räume durcheinander, immer mehr Alter Egos der Handlungsträger bevölkern die Bühne.

Michael Nagl (Figaro), Sarah-Jane Brandon (Contessa Almaviva), Susanna

Dieses bunte Gemisch suggeriert die Vielfältigkeit an Lebensentwürfen. Diese erweisen sich als recht verschieden. Die unterschiedlichen Identitäten sind schon recht fraglicher Natur. Das gilt sowohl für die Herren als auch für die Diener. Eigentlich sind ihre Lebensprobleme dieselben. So weit so gut. Mit diesem Ansatzpunkt lässt sich größtenteils leben. Das Problem dieser Inszenierung besteht indes darin, dass die Regisseurin allzu früh ihr Pulver verschießt. Was sie durchaus ansprechend zu sagen hat, erschöpft sich bereits im ersten Teil des Abends. Der zweite besteht dann in einer Wiederholung des immer Gleichen. Schade. Das ist ein kleines, aber nicht unerhebliches Manko, das der Aufführung nicht gut bekam.

Susanna, Sarah-Jane Brandon (Contessa Almaviva), Diana Haller (Cherubino)

Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Eine Freude war es, dem jungen Michael Nagl zuzuhören, der mit prachtvollem, sonorem, differenzierungsfähigem und bestens fokussiertem Bass einen ausgezeichneten Figaro sang, den er auch überzeugend spielte. Neben ihm war die in jeder Beziehung mädchenhaft anmutende, ausgelassen spielende und ebenfalls gut im Körper singende Lauryna Bendziunaité eine perfekte Susanna. Mit volltönendem, geradlinig geführtem und nuancenreichem Bariton sang Johannes Kammler den Conte Almaviva. Die Contessa Almaviva war bei Sarah-Jane Brandon in besten Händen. Hier haben wir es mit einem ungemein prachtvollen Sopran erstklassiger italienischer Schulung mit ansprechender Linienführung, sauber Registerverblendung und enormer Ausdrucksintensität zu tun, die obendrein auch noch zu herrlichen Piani fähig war. In Nichts nach stand ihr der Cherubino der mit ausgezeichnetem, profundem und dunklem Mezzosopran singenden Diana Haller. Die Sängerin dürfte über dieses Fach inzwischen indes etwas hinausgewachsen sein. Jetzt würde man sie gerne mal in etwas dramatischeren Rollen erleben. Das Zeug dazu hat sie. Einen ebenfalls gut gestützten und trefflich verankerten Bass brachte Friedemann Röhlig für den Bartolo mit. Mit nicht allzu großem, aber gefälligem hellem Mezzosopran gab Helene Schneiderman die Marzelline. Ein insgesamt gefälliger Basilio war Heinz Göhrig, obwohl sein Tenor etwas tiefgründiger sein könnte. In der kleinen Rolle der Barbarina gefiel Claudia Muschio. Über kräftigeres Tenormaterial als man es bei der kleinen Partie des Don Curzio sonst gewohnt ist, verfügte Christopher Sokolowski. Einen robusten Bass brachte Matthew Anchel in die Rolle des Antonio ein. Solide rundeten Elisabeth von Stritzky und Teresa Smolnik als die zwei Mädchen das homogene Ensemble ab. Wie immer erstklassig sang der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsoperchor Stuttgart.

Johannes Kammler (Conte Almaviva)

Als trefflicher Anwalt für Mozarts Werk erwies sich Roland Kluttig am Pult. Er fand zusammen mit dem gut gelaunt aufspielenden Staatsorchester Stuttgart genau den richtigen Ton von Spritzigkeit, Lockerheit und ansprechender Transparenz. Die Tempi waren moderat und der musikalische Ausdruck oft recht rasant und hintersinnig. Das hat zu dem Stück gut gepasst. Auch auf dynamische Abstufungen verstand sich der Dirigent vorzüglich.

Fazit: Trotz kleiner szenischer Mängel ein insgesamt lohnender Abend, der insbesondere sängerisch überzeugte.

Ludwig Steinbach, 22.12.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund