Stuttgart: „Lohengrin“

Besuchte Aufführung: 20.10.2018, (Premiere: 29.9.2018)

Dunkle Gesellschaftsparabel

Seit dieser Spielzeit haben die Württembergischen Staatstheater einen neuen Intendanten. Jossi Wieler, der sieben Jahre die Geschicke des Hauses leitete, hat seinen Posten aufgegeben, um wieder mehr als freier Regisseur tätig zu sein. Sein Nachfolger im Amt wurde Victor Schoner, der als erste Neuproduktion eine gelungene Neuproduktion von Wagners „Lohengrin“ herausbrachte. Damit wurde die Messlatte in jeder Beziehung nach oben gestellt. Was es an diesem gelungenen Abend zu sehen und zu hören gab, war in hohem Maße ansprechend. Wer geglaubt hatte, Regisseur Árpád Schilling würde den Schwerpunkt seiner Betrachtungen auf das Märchen legen und eine konventionelle Deutung präsentieren, sah sich in seinen Erwartungen getäuscht. Von einer traditionellen Sichtweise ist seine Interpretation weit entfernt. Diese ist vielmehr gänzlich in der Gegenwart verankert. Zusammen mit Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt und Tina Kloempken (Kostüme) begibt er sich auf ein gesellschaftskritisches Terrain und zeigt in überzeugender Art und Weise die Wechselbeziehungen zwischen einem Volk und einem Machthaber auf.

Michael König (Lohengrin), Simone Schneider (Elsa), Staatsopernchor

Der Zustand der Gesellschaft ist es, der Schilling in erster Linie interessiert. Kann sie sich halten oder muss sie am Ende zerbrechen? Jedenfalls benötigt die Gemeinschaft in hohem Maße eine Führungsperson, um zu erreichen, was sie sich vorgenommen hat. Und solchen Führungspersonen misstraut der aus Ungarn stammende Regisseur grundsätzlich. Dass er mit seinem Ansatzpunkt einen Seitenhieb auf Victor Orbán intendiert, ist nicht ausgeschlossen. Das Ganze ist eine äußerst pessimistische Angelegenheit. Regisseur und Bühnenbildner haben die Handlung in einen stets dunkel ausgeleuchteten, leeren und in einen Schlund mündenden Einheitsraum verlegt, der lediglich durch die Aktionen der Protagonisten definiert wird. Hier haben wir es also mit einem Theater der Reduktion auf der Ebene des Visuellen zu tun, in dem Brechts kaukasischem Kreidekreis, der zum Kampf zwischen Lohengrin und Telramund auf den Boden gezeichnet wird, zentrale Bedeutung zukommt. Árpád Schilling scheint Brecht in hohem Maße verbunden zu sein. Verfremdung ist angesagt, die ursprüngliche romantische Sage spielt keine wesentliche Rolle mehr. Essentiell sind, wie gesagt, kollektive Mechanismen, die nicht zuletzt durch die gelungenen Kostüme aufgezeigt werden.

Okka von der Damerau (Ortrud), Martin Gantner (Telramund)

Die Gemeinschaft hat ihren Halt verloren und ist feige geworden. Sie weiß nicht mehr, welchen Weg sie einschlagen muss. Negative Gefühle bestimmen ihre Existenz. Positive Werte sind ihr fremd geworden. Der König ist seinen Untertanen dabei keine große Hilfe. Er ist ein schwacher Herrscher, der mit seiner Aufgabe in Zwiespalt steht und sein Amt lieber wieder abgeben würde. Auch Telramund erweist sich als ungeeignet für die Staatsführung. Die Brabanter sind sich im Klaren darüber, dass das Elsa zugefügte Unrecht abgewendet werden muss. Sie wagen aber nicht, unentschlossen wie sie sind, selbst die Initiative zu ergreifen. Ihnen bleibt nur übrig, aus ihrer Mitte heraus eine Art Heilsbringer zu gebären, der die Sache richten soll. Lohengrin ist hier mithin kein von einer höheren Macht Auserwählter, sondern wird aus der Mitte der Gesellschaft rekrutiert. Zuerst hat er überhaupt keine Lust, der ihm zugedachten Aufgabe nachzukommen. Sein Versuch, sich erneut in die Gemeinschaft einzugliedern, bleibt vergeblich. Gnadenlos wird er indessen von der Masse wieder nach vorne gestoßen. Ihm bleibt letztlich nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Das tut er aber nur widerwillig. Der als starke, selbstbewusste Frau gezeichneten Elsa übergibt er bei seiner Ankunft einen Spielzeugschwan. Er scheint um Gottfrieds Schicksal zu wissen. Die erschrockene Ortrud bemerkt dies und befürchtet, enttarnt zu sein. Der Zweikampf mit Telramund ist bei Schilling kein echtes Duell. Er erschöpft sich in einer Ohrfeige, die der neue Führer seinem Gegner gibt, und ist als Absage der sich um Lohengrins Seite des Kreidekreises sammelnden Brabanter an ein altes System zu verstehen.

Michael König (Lohengrin), Simone Schneider (Elsa), Staatsopernchor

Hat sich dadurch aber etwas geändert? Zumindest hat es den Anschein – aber nur zuerst. In der zu Beginn von in grauem Einheitslook vorgeführten Männergesellschaft haben auf einmal auch die Frauen etwas zu sagen. In Lohengrin haben sie einen Verfechter ihrer Wünsche und Sehnsüchte gefunden, der der patriarchalischen Ausrichtung der Gemeinschaft eine klare Absage erteilt und auch das weibliche Geschlecht an der Politik teilhaben lässt. Als äußeres Zeichen dafür legen die Frauen bunte Kleider an und entledigen schließlich auch die Männer ihrer grauen Kostüme. Auch die Herren der Schöpfung sind zu Beginn des dritten Aufzuges auf einmal in abwechslungsreiche farbige Outfits gewandet. Damit ist der Weg von der Anonymität des Kollektivs zu individueller Freiheit geöffnet. Die Frauen erlangen eine Stärke wie sie auch Elsa aufweist, mit der zusammen sie in der Münsterszene einen Fluss aus blauen Mänteln kreieren, der später mit leblosen Schwänen garniert wird. Damit will der Regisseur laut Programmbuch ihre Fähigkeit ausdrücken, sich etwas vorzustellen, „das die Realität transzendiert, in einer miserablen Lage nicht so sehr in den Traum zu fliehen als vielmehr dank ihm zu überleben“.

Michael König (Lohengrin)

Der Gral bleibt nach Schillings Verständnis eine Utopie, eine Wunschvorstellung, die sich als Inbegriff des Guten in dieser Welt nicht durchsetzen kann. Es gibt eben nicht nur Hehres auf Erden, auch negativen Aspekten ist Tür und Tor geöffnet. Auch Lohengrin weist hier eine böse Seite auf. Das zeigt sich insbesondere im Brautgemach, wo er ganz unnötigerweise den unbewaffneten Telramund tötet. Der brabantische Graf ist hier von Anfang an das Opfer der ganzen Entwicklung. Er will Lohengrin nicht umbringen, sondern bemüht sich nur, die Situation zu begreifen. Er sieht, dass die Beziehung zwischen Elsa, die er einmal geliebt hat und vielleicht immer noch liebt, und Lohengrin ebenfalls nicht funktioniert. Gleichzeitig erkennt er, dass es falsch war, Ortrud zu vertrauen. Aus diesem Grund fühlt er sich nun als Sieger, kann sich seines Triumphes aber nicht lange freuen. Er wird von Lohengrin mit dem Messer der von gegenüber Telramund mit Rachephantasien beherrschten Elsa kurzerhand um die Ecke gebracht. Diese Tat lässt den Gralsritter nicht unberührt. Allein und mit sich selbst im Unreinen verfällt er während der Verwandlungsmusik des dritten Aufzuges in tiefe Verzweiflung. Er hat die böse Seite in sich erkannt, lehnt diese aber ab und sehnt sich nach dem Guten. Diese Erkenntnis verbunden mit der Sehnsucht nach dem Heil manifestiert sich in der Gralserzählung, die er im Sitzen vorträgt. Am Ende muss er die Gemeinschaft verlassen. Seine abschließenden, den neuen Herzog von Brabant betreffenden Worte, sind nicht an den hier nicht in Erscheinung tretenden Gottfried gerichtet, der wirklich tot ist – das ist eine Grundvoraussetzung von Schillings Inszenierung -, sondern an einen x-beliebigen Mann aus dem Volk, der von der überlebenden Ortrud kurzerhand als neuer Verantwortlicher für die Geschicke der Brabanter inthronisiert wird. Dem Volk scheint der Verlust Lohengrins gar nicht recht zu sein. Drohend nähert es sich Elsa, die es für die Misere verantwortlich macht. Diese richtet ihr Messer nun gegen sich selbst. Das war alles gut durchdacht und auch spannend umgesetzt. Lediglich der Chor blieb manchmal etwas zu statisch.

Simone Schneider (Elsa), Goran Juric (König Heinrich), Okka von der Damerau (Ortrud), Staatsopernchor

Zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. In der Titelpartie war Michael König zu erleben, der sich gut entwickelt hat. Seit ich ihn das letzte Mal hörte, hat er seinen Tenor vollends in den Körper gebracht und wartete nun mit einer breiten Palette an differenzierten Klängen auf. Imposante laute Töne stehen ihm genauso zu Gebote wie zarte leise. Auch die Diktion war vorbildlich. Übertroffen wurde er von Simone Schneider, die eine phantastische Elsa sang. Mit der ganzen Spannbreite ihres bestens fokussierten, wandelbaren und vorbildlich italienisch geschulten Soprans, der auch zu hochdramatischer Attacke fähig ist, zeichnete sie ein bewegendes Bild der brabantischen Herzogstochter, der sie auch darstellerisch voll gerecht wurde. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass hier eine gute Isolde und Brünnhilde nachwächst. Eine hervorragende Leistung erbrachte Okka von der Damerau, die sich mit mächtigem, tiefgründigem und in allen Lagen prachtvoll fundiertem Mezzosopran als eine der ersten Vertreterinnen der Ortrud erwies. Neben ihr gefiel mit hellem, aber trefflich sitzendem und nuancenreichem Bartion Martin Gantner als Telramund. Die unangenehm hohe Tessitura des König Heinrich wurde von dem prachtvoll und sonor singenden Goran Juric eindrucksvoll bewältigt. Shigeo Ishino schlug sich in der Partie des Heerufers mit vollem, rundem Bariton insgesamt durchaus beachtlich. Lediglich bei der Stelle „Des Königs Wort und Will“ im zweiten Aufzug hatte er Schwierigkeiten mit dem hohen ‚f’, das nicht optimal gelang. Von den vier brabantischen Edlen gefielen die tadellos singenden Bassisten Andrew Bogard und Michael Nagl besser als die nur flach intonierenden Tenöre Torsten Hofmann und Heinz Göhrig. Der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart bewies, dass er nicht umsonst ein weiteres Mal Opernchor des Jahres geworden ist

Eine gute Leistung ist auch dem neuen GMD Cornelius Meister und dem versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart zu bescheinigen. Bereits die einleitenden hohen Violinen vermittelten einen visionären, abgehobenen Eindruck. Im Folgenden warteten Dirigent und Musiker ganz im Einklang mit der Inszenierung auch mal mit bodenständigeren Tönen auf. Der junge GMD bewies ein treffliches Gespür für dramatische Ausbrüche, zeigte sich aber auch als Meister leiser, poesievoller Passagen. Darüber hinaus legte er aber auch gesteigerten Wert auf ausgefeilte dynamische Abstufungen sowie eine gute Transparenz.

Fazit: Eine in jeder Beziehung gelungene Aufführung, die insbesondere den Liebhabern moderner Inszenierungen sehr zu empfehlen ist. Das war wahrlich ein würdiger Einstand für das neue Leitungsteam.

Ludwig Steinbach, 21.10.2018

Die Bilder stammen von Matthias Baus