Stuttgart: „Parsifal“

Besuchte Aufführung: 25.2.2018 (Premiere: 28.3.2010)

Unmenschlichkeit mit Artaud und Freud

An der Stuttgarter Staatsoper ist Calixto Bieito s im Bühnenbild von Susanne Gschwender und den Kostümen von Mercè Paloma spielende Inszenierung von Wagners „Parsifal“ wieder aufgenommen worden. Obwohl bereits nach dem ersten Aufzug lautstarke Buhrufe zu vernehmen waren, ist Bieito eine wahrlich atemberaubende, spannende und atmosphärisch dichte Regiearbeit zu bescheinigen, reichlich garniert mit Tschechow’schen Elementen und Brecht’schem Gedankengut. Der Regisseur ließ sich bei seiner Deutung des Werkes von Cormac McCarthys Roman „Die Straße“ inspirieren. Weihevoll ist seine Interpretation nicht. Die Inszenierung wird vielmehr von knallhartem Realismus geprägt. Das Bühnenbild ist in diffuses graues Licht getaucht und vermittelt eine düstere Endzeitstimmung. Dem Blick erschließt sich eine zerstörte Welt, gleichsam eine postapokalyptische Landschaft, die von der Ruine einer Brücke, Sinnbild eines zerstörten Weges, bestimmt wird. Diese ist im dritten Aufzug eingestürzt. Die Bäume sind verkohlt und die Luft ist derart verpestet, dass einige Handlungsträger sogar Sauerstoffmasken benötigen. Augenscheinlich sind die Menschen vor nicht allzu langer Zeit von einer großen Katastrophe heimgesucht worden. Nun hausen sie in den Trümmern ihrer einstigen Zivilisation und suchen nach neuen Werten. Verzweifelt klammern sie sich an nur scheinbar religiöse Rituale, die ihnen helfen sollen, neue Kraft zu schöpfen. Mit dem Christentum hat Bieitos Ansatzpunkt indes überhaupt nichts zu tun. Das entspricht ganz und gar Wagners Intentionen, der einmal gegenüber Cosima bekannt hat: „An den Heiland habe ich dabei gar nicht gedacht“.

Heinz Göhrig (Erster Gralsritter), Attila Jun (Gurnemanz)

Es sind nicht äußere Blessuren, an denen die Gesellschaft zu leiden hat, sondern vielmehr innere Verletzungen. Diese resultieren aus einem Verlust des Glaubens. Das gilt in erster Linie für den Shakespeares König Lear nachempfundenen Amfortas. Seine ausgeprägte Glaubenskrise ist schuld daran, dass er den für die Gemeinschaft lebensnotwendigen Ritus des Liebesmahls nicht vollziehen kann. Seine heftigen Schmerzensausbrüche können die in ihrem Verlangen nach Labung unerbittlichen, aus Löchern im Erdboden kriechenden und sehr hässlich eingekleideten Überlebenden des Infernos in keiner Weise beeindrucken. Die Mahnungen des alten, blind durch die Reihen seiner Anhänger wandelnden ehemaligen Anführers Titurel sind zunächst ebenfalls von keinerlei Erfolg gekrönt. Der kollektiven Kraft der deprimierten Menschen, die fordernd Plakate und Verkehrsschilder mit Aufschriften wie „Wo ist Gott?“, „Führe mich“, „Leite mich“, „Erleuchte mich“, „Erbarme dich“, „Rette mich“ und „Schütze mich“ in unterschiedlichen Sprachen in die Höhe halten, kann Amfortas zu guter Letzt aber nichts mehr entgegensetzen und entspricht ihrem Verlangen. Wenn die Gesellschaft die zahlreich vom Schnürboden herabschwebenden rituellen Gegenstände aus verschiedenen Weltreligionen ungestüm an sich reißt, wird offensichtlich, wie sehr sie sich nach spirituellem Halt sehnt. Erscheinungsformen aus den verschiedensten Weltreligionen werden hier auf ziemlich krasse Art und Weise vorgeführt. Aber auch konventionelle Grale in Form von goldenen Kelchen sind darunter. Einen davon hebt Parsifal verständnislos in die Höhe. Wenn er sich im dritten Aufzug gleich einem Weihnachtsbaum mit den Begierden und Sehnsüchten seiner Mitmenschen in Form von allen möglichen Heilsinsignien behängen lässt, mutiert er gleichsam zu einem persiflierten Christus mit Engelsflügeln. Durch diesen Einfalls Bieitos wird das Ganze bewusst etwas ins Kitschige und Lächerliche gezogen. Durch diese Persiflage auf die Religion wird deutlich, dass es nicht Glaubensfragen sind, die hier abgehandelt werden. Vielmehr liegt der Focus auf reiner Theatralität. Demgemäß gibt es in dieser Produktion auch keinen konkreten gegenständlichen Gral. Dieser ist vielmehr geistiger Natur und als die mit jedem von den desolaten Zuständen Betroffenen umgehende Frage zu verstehen, ob es überhaupt eine Erlösung gibt. Diese mündet in einer letztlich vergeblichen Sinnsuche, die erfolglos bleiben muss, weil die Zerstörung der Welt unaufhaltsam fortschreitet. Dieser Fakt führt auch zu immer fragwürdigeren Verhaltensmustern.

Josefin Feiler (Erster Knappe), Daniel Kirch (Parsifal)

Die Angehörigen der Gralsgemeinde haben unter mannigfaltigen, auch sinnlichen Entbehrungen zu leiden und werden zunehmend aggressiv und gewalttätig. Chaos macht sich breit. Negation gebiert Anarchie als neue Daseinsform. Damit wären wir bei Artaud und seinem Theater der Grausamkeit angelangt, das nachhaltig eine Situation des Nicht-Seins formuliert und konsequenterweise auch surrealistische Elemente aufweist. Zorn und Hass der Menschen auf eine unfähige Führungsschicht machen sogar vor Titurel nicht halt. Es ist ein ausgesprochen starkes Bild, wenn die aufsässigen und in hohem Maße brutal gewordenen Mitglieder der Gemeinschaft den völlig nackt umherschweifenden, wahnsinnig gewordenen und immer wieder „Erlösung“ faselnden alten Anführer Titurel grausam mit einem Beil erschlagen und seine Leiche in einer Badwanne seinem Sohn Amfortas präsentieren. Äußerst drastisch wird hier aufgezeigt, wie ein einstmals hochmoralischer Männerorden unaufhaltsam seiner hehren Werte verlustig geht und zu einer kriminellen Sekte wird. An die Stelle von Nächstenliebe sind menschenverachtende Unbarmherzigkeit und Respektlosigkeit getreten. Der Weg zur Erlösung ist ihm mithin abgeschnitten. Deutlich wird, welche fürchterlichen Folgen es haben kann, wenn gewaltsam unterdrückte Triebe auf einmal explosionsartig aus dem Inneren des Menschen hervorbrechen und ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Hier bezieht sich Bieito nachhaltig auf Sigmund Freud, dessen bahnbrechende Erkenntnisse über die Gefahren der Triebunterdrückung er meisterhaft in seine Konzeption integriert. Zum äußeren Geschehen gesellt sich somit noch eine innere Handlung, die in der Seele der Beteiligten verankert ist und dem Regisseur die Basis für eine tiefschürfende Psychoanalyse der Handlungsträger gibt. Deren Handlungen sind dabei oft weniger realer als vielmehr geistiger Natur.

Tobias Schabel (Klingsor), Christiane Libor (Kundry)

Die Amtsmüdigkeit von Amfortas fällt ebenso in diese Kategorie wie die ebenfalls an Artaud erinnernden rohen Gewaltphantasien des im dritten Aufzug offenbar erblindeten Priesters Gurnemanz – er wird als Manipulator für die Instrumentalisierung der Spiritualität interpretiert – gegenüber einem Engelskind, womit Bieito die zur Zeit der Entwicklung seines Konzepts bekannt gewordenen Missbrauchsvorwürfe gegen die katholische Kirche anprangert. Auch Gurnemanz hat mithin böse Seiten. Der kleine Junge wird dann als Symbol der Reinheit für den hier nicht in Erscheinung tretenden Schwan von Parsifal erschossen. Anschließend präsentiert Gurnemanz dem reinen Toren anstelle des Schwans den toten Körper des Knaben. Durch diese Zuschiebung der Schuld wird die moralische Reife von Parsifal auf die Probe gestellt. Als sich diese als noch nicht ausgereift zeigt, wird dem Titelhelden von dem enttäuschten Gurnemanz das Wort „Erlösung“ auf die Brust tätowiert. Das allererste Bild ist ebenfalls psychischer Natur. Die während des ausinszenierten Vorspiels gänzlich nackt über die Bühne wandelnde Schwangere ist nicht nur als Sinnbild für das Leben überhaupt zu verstehen, sondern ebenso als Sehnsucht der in vielen Reinkarnationen durch die Zeiten wandernde Kundry nach Mutterglück. Dieser Wunsch erfüllt sich ihr schließlich. Im dritten Aufzug ist sie, nachdem sie sich selbst die Zunge herausgeschnitten hat, schwanger. Von wem weiß man nicht. Von Parsifal, dem sie sich weniger als Verführerin, sondern vielmehr als Muttergestalt nähert, eher nicht. Das Prinzip Hoffnung, um es mal mit Ernst Bloch zu formulieren, wird von ihr unbeirrt durch immer neues Leben in ein neues Zeitalter transportiert, mag die jetzige Welt auch noch so sehr in Trümmern liegen. Eine seltsame Hassliebe prägt ihre Beziehung zu Klingsor. Das Bild, in dem sie ihm zuerst die Hose herunterzieht, den am Boden Liegenden dann mit Benzin überschüttet und anzuzünden versucht, zeigt ihre innere Zerrissenheit auf. Bieitos Sicht des Magiers, der von seinen Trieben gequält auch nach Erlösung trachtet und am Ende des zweiten Aufzuges von Parsifal getötet wird, ist ebenfalls ausgemachter Freud’scher Natur. Er bereut aufs Tiefste, sich selbst entmannt zu haben, und versucht stark deprimiert, seine alte Manneskraft zurückzuerlangen – ein Bemühen, das indes zum Scheitern verurteilt ist. Sein Neid auf alle unversehrten Geschöpfe wächst immer stärker an. Insbesondere die in Zellophan gewandeten Blumenmädchen haben unter seiner Grausamkeit sehr zu leiden. Ihr an Parsifal adressierter Hilfeschrei wird von dem noch unreifen Helden nicht vernommen. Sein erwachender Geschlechtstrieb hat Vorrang. Er entkleidet ein blutüberschmiertes Mädchen fast gänzlich und erkundet neugierig deren erogene Zonen. Später ersticht er ein weiteres. Erst am Ende vermag der reine Tor den Bann zu brechen. Er opfert seinen Leib und sein Blut gleichsam dem neu initiierten Liebesmahl und lässt sich in derselben Badewanne, aus der sich vorher der tote Titurel auf einmal wieder erhoben hatte, in Unterhosen von der Bühne tragen. Es war schon eine schwere Kost, die den Zuschauern da präsentiert wurde. Wer sich aber vorbehaltslos auf Bieitos Interpretation einließ, wurde mit einem hochspannenden Opernabend belohnt.

Daniel Kirch (Parsifal)

Fast durchweg zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Daniel Kirch war ein intensiv spielender Parsifal. Auch sängerisch wurde er mit seinem baritonal grundierten, kräftigen und gut fokussierten Heldentenor dem reinen Toren voll gerecht. Christiane Libor war eine nicht gerade schöne und verführerische Kundry. Aber das war wohl Bieitos Konzept. Gesungen hat sie mit gut sitzendem, höhensicherem und ausdrucksstarkem Sopran perfekt. Der Gurnemanz von Attila Jun begeisterte durch immense Stimmkraft, hohes Ausdrucksvermögen und einfühlsame Linienführung. Einen markant singenden Amfortas gab Markus Marquardt. Sehr eindrucksvoll war, wie Tobias Schabel als äußerst sportlicher, jugendlich vitaler Klingsor eifrig in dem Bühnenbild herumkletterte und dabei mit bestens sitzendem, prägnantem Bass-Bariton auch noch hervorragend sang. Der inzwischen im Ruhestand befindliche Matthias Hölle, der sich im dritten Aufzug doubeln ließ, war noch einmal an die Stuttgarter Staatsoper zurückgekehrt und sang mit immer noch intakten Bass-Reserven einen guten Titurel. Solide waren die Gralsritter von Heinz Göhrig und Michael Nagl. Bei Torsten Hofmann und Moritz Kallenberg als dritter und vierter Knappe vermisste man die nötige Körperverankerung der Stimme. Gut gefielen in den Rollen des ersten und des zweiten Knappen Josefin Feiler und Diana Haller. Eine treffliche Stimme aus der Höhe war Stine Marie Fischer. Die Damen Feiler und Fischer befanden sich auch in dem gefälligen Ensemble der Blumenmädchen, in dem Estelle Kruger, Fiorella Hincapié, Mirella Bundaica und Aoife Gibney ihre Partnerinnen waren. Vorzüglich entledigten sich die von Christoph Heil und Johannes Knecht einstudierten Staatsopernchor Stuttgart und Kinderchor ihrer Aufgabe.

Daniel Kirch (Parsifal), Christiane Libor (Kundry)

Nicht nur Zustimmung, sondern auch vereinzelten Buhrufen sah sich GMD Sylvain Cambreling beim Schlussapplaus ausgesetzt. Das dürfte daran gelegen haben, dass sein von raschen Tempi geprägtes Dirigat keine Wärme und kein Gefühl aufwies, sondern durchweg sehr analytisch und rational gehalten war. Erstklassig spielte das gut aufgelegte Staatsorchester Stuttgart.

Fazit: Eine äußerst spannende Aufführung, die jedem Opernfreund sehr zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 26.2.2018

Die Bilder stammen von Martin Sigmund