Stuttgart: „Mefistofele“

Besuchte Aufführung: 22.6.2019 (Premiere: 16.6.2019)

Halluzinationen eines Psychopathen

Eine Ko-Produktion mit der Opéra de Lyon stellt die Neuinszenierung von Arrigo Boitos Oper Mefistofele an der Staatsoper Stuttgart dar. Das war ein äußerst bemerkenswerter Opernabend, bei dem einfach alles stimmte. Szene, Musik und gesangliche Leistungen formierten sich zu einer ungeheuer beeindruckenden Symbiose. Die Wirkung war enorm. Das ging durch und durch.

Mika Kares (Mefistofele), Chor, Kinderchor

Arrigo Boito dürfte einem breiten Publikum als Librettist von Giuseppe Verdi ein Begriff sein. Die Textbücher von Otello und Falstaff stammen aus seiner Feder. Weniger bekannt ist, dass er sich auch als Komponist versucht hat. Der Mefistofele, in dem Boito Teile aus Goethes Faust 1 und Faust 2 verbindet und dabei den Teufel in den Mittelpunkt stellt, ist seine einzige Oper. Der Erstfassung des Werkes war bei ihrer 1868 an der Mailänder Scala erfolgten Ur-Aufführung kein Erfolg beschieden. Aber Boito gab nicht auf und brachte das Werk 1875 in Bologna in einer revidierten und stark gekürzten Fassung, die auch in Stuttgart zu erleben ist, neu heraus. Und jetzt kam der Mefistofele beim Publikum an und setzte sich schnell durch. Ein Grund für den Erfolg dürfte gewesen sein, dass das Auditorium in Bologna inzwischen mit der Musiksprache von Richard Wagner vertraut gewesen ist, dessen Lohengrin hier 1871 zum ersten Mal aufgeführt wurde. Und Anklänge an Wagners Lohengrin gibt es im Mefistofele reichlich. Boito war schon ein ausgemachter Wagnerianer. Dementsprechend rückte an diesem gelungenen Abend auch Dirigent Daniele Callegari das Werk ganz nahe an Wagner heran und dreht das prachtvoll aufspielende Staatsorchester Stuttgart oftmals mächtig auf. Manche Stellen wirkten lautstärkemäßig etwas übertrieben. Auf der anderen Seite setzte er aber auch stark auf Kantabilität und große Spannungsbögen, was dem Stück gut getan hat.

Mika Kares (Mefistofele), Chor, Kinderchor

In hohem Maße gelungen war die Inszenierung von Alex Ollé (La Fura dels Baus) in dem Bühnenbild von Alfons Flores und den Kostümen von Lluc Castells. Die szenische Einstudierung besorgten Susana Gómez und Tine Buyse. Die Produktion zeichnete sich in erster Linie durch ein gewaltiges, höchst eindrucksvolles Bilderpanorama aus, wies aber ebenfalls eine solide Personenregie auf und fußte zudem auf einem überzeugenden Konzept. Wenn sich der Vorhang hebt, erschließt sich dem Blick ein Laboratorium mit einer Spiegelrückwand, in dem zahlreiche mit Schutzanzügen ausgestattete Laboranten an Tischen sitzen und rohe Fleischstücke sezieren. In der ersten Reihe sitzt Faust. Auch Margherita ist darunter. Als der Feierabend hereinbricht, verlassen die Arbeiter den Raum. Margherita wird auf den allein sitzen gebliebenen Faust aufmerksam. Er scheint ihr zu gefallen. Dann wird sie aber von einer Kollegin weggezogen. Während Faust sich an seinem Laptop zu schaffen macht, betritt eine Putzkolonne in gelben Overalls den Raum und macht sich an die Arbeit. Unter ihnen ist Mefistofele, der beim ersten Erklingen des Gesanges der himmlischen Heerscharen enorme Qualen fühlt und sich die Ohren zuhält – eine Szene, die im Lauf des Abends noch öfters wiederholt wird. Dann entschwindet er durch eine Bodenluke in den Keller des Laboratoriums, seine eigene Unterwelt. Gnadenlos meuchelt er einige kindliche Cherubini, bevor ihm von einem erwachsenen Engel das Herz aus dem Leib gerissen wird. Der anschließende Osterspaziergang wird von Ollé als Betriebsfest vorgeführt, in dem sich ein Mann und eine Frau bis auf die Unterwäsche entkleiden. Das Ganze artet in einen ausgemachten Tabledance aus, in deren Verlauf die eifrig dem Sekt zusprechenden Festgäste immer betrunkener werden. Die Szene im Garten, die nahtlos in den Hexensabbat der Walpurgisnacht übergeht, spielt in einer Disco mit einer übermäßig stark glitzernden Discokugel. Eine riesige Metallkonstruktion fungiert als Margheritas Gefängnis. Schließlich steigt das Mädchen in den Bühnenhimmel auf und wird dort auf einem elektrischen Stuhl ins Jenseits befördert. Die anschließende Helena-Szene verlegt der Regisseur in ein Varieté. Im Epilog kehrt das Laboratorium des Anfangs wieder. Im Original wird Mefistofele um Fausts Seele betrogen. Bei Ollé siegt er und schneidet dem Wissenschafter kurzerhand die Kehle durch.

Mika Kares (Mefistofele), Chor

Das waren schon gewaltige visuelle Impressionen. Aber auch das geistige Gewand, das der Regisseur dem Stück angedeihen ließ, war trefflich durchdacht. Er stellt Mefistofele als ausgemachten Psychopathen dar, dessen Halluzinationen das Grundgerüst der dramatischen Handlung bilden. Der Teufel leidet unter seiner Herzlosigkeit und kann, wie oben bereits gesagt, den himmlischen Gesang der Cherubini nicht mehr ertragen. Er verfügt über keinerlei Empathie für die Menschen um sich herum und stellt von Anfang an das von Grund auf Böse dar. Das lässt ihn an der Welt verzweifeln. Mefistofele und Faust bilden die Kehrseite einer Medaille. Der Teufel ist gleichsam die abgespaltene dunkle Seite des Wissenschaftlers. Sigmund Freud lässt grüßen. Ein guter Einfall! Diese Idee kehrt auch bei Margherita und Helena wieder. Wenn Helena zu Beginn des vierten Aktes auf demselben elektrischen Stuhl erwacht, auf dem Margherita kurz zuvor hingerichtet wurde, wird deutlich, dass die beiden Frauen ebenfalls als zwei Facetten derselben Person aufzufassen sind. Helena ist gleichsam die wiedergeborene Margherita. Aus diesem Grund werden beide auch von derselben Sängerin gesungen. In Fausts Kopf kommt es zu einer Idealisierung der Frau. Dieses Prinzip setzt sich fort.

Olga Busuioc (Margherita), Mika Kares (Mefistofele), Antonello Palombi (Faust)

Das Ganze spielt sich in einer Spaßgesellschaft ab, die nur auf vordergründiges Vergnügen bedacht ist und deren Kostüme im Verlauf des Abends immer verrückter anmuten. Sie kennt kein Innehalten und krankt an dem Mangel an Ernsthaftigkeit. Ewig währender Spaß und nicht enden wollende Lustigkeit werden hier als Krankheit der Gemeinschaft aufgezeigt. Gott spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr. Gott ist tot. Hier wird von Ollé ein gehöriger Schuss Nietzsche ins Spiel gebracht. Der Mensch hat sich zu seinem eigenen Gott gemacht. Irgendwie geartete Projektionsflächen für seine Wünsche und Sehnsüchte – das ist Feuerbachs Verständnis von Gott – braucht er nicht mehr. Die Gesellschaft beginnt sich aus sich selbst heraus neu zu definieren und damit ihre innere Leere zu überwinden. Sie stellt sowohl das Gute als auch das Böse dar. Die Folge ist ein an Freud angelehnter innerer Kampf, in dem die beiden Prinzipien ausgefochten werden. Das war alles gut durchdacht und trefflich umgesetzt. Dabei ließ die Regie dem Zuschauer noch genügend Raum für eigene Assoziationen.

Mika Kares (Mefistofele), Antonello Palombi (Faust), Chor

Die gesanglichen Leistungen bewegten sich ebenfalls auf erstklassigem Niveau. Als Mefistofele glänzte Mika Kares, der seinem Part mit eindringlichem Spiel und sonorem, bestens italienisch geschultem Bass mehr als gerecht wurde. Einen gut sitzenden, ansprechenden Tenor brachte Antonello Palombi für den Faust mit, dessen Höhenflüge er bestens bewältigte. Mit prächtigem, hervorragend fokussiertem und höhensicherem Sopran verlieh Olga Busuioc sowohl der Margherita als auch der Helena beeindruckendes dramatisches Potential. Solide sang Christopher Sokolowski den Wagner und den Nerèo. Eine imposante Altstimme brachte Fiorella Hincapié für die Marta und die Pantalis mit. Mächtig legte sich der von Manuel Pujol grandios einstudierte Staatsopernchor Stuttgart ins Zeug. Auch der von Bernhard Moncado betreute Kinderchor der Staatsoper Stuttgart vermochte gut zu gefallen.

Fazit: Eine geradezu preisverdächtige Aufführung, deren Besuch jedem Opernfreund dringendst empfohlen wird!

Ludwig Steinbach, 23.6.2019

Die Bilder stammen von Thomas Aurin