Stuttgart: „Der fliegende Holländer“

Besuchte Aufführung: 20.6.2019 (Premiere: 25.1.2008)

Die Globalisierung und ihre Schattenseiten

Zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten geriet die Wiederaufnahme von Wagners „Der fliegende Holländer“ an der Staatsoper Stuttgart. Erwähnenswert ist, dass in der württembergischen Landeshauptstadt die Urfassung des Werkes auf die Bühne gebracht wird. In dieser sind die Norweger noch Schotten und Daland und Erik heißen Donald und Georg. Im Gegensatz zu der gängigen Wiener Fassung gibt es hier keinen Erlösungsschluss. Außerdem mutet das Klangbild etwas härter an als gewohnt. Demgemäß betonten David Afkham am Pult und das gut disponierte Staatsorchester Stuttgart auch die Ecken und Kanten der Partitur. Leider verwechselte der Dirigent bei den dramatischen Stellen manchmal Dramatik mit Lautstärke. Wo es angebracht war, animierte er die Musiker indes auch zu verhaltener, leiser Tongebung.

Staatsopernchor Stuttgart

Überzeugend war die bereits vor elf Jahren aus der Taufe gehobene Inszenierung von Calixto Bieito. Bei ihm liegt der Fokus nicht auf unwirklichen Sagenfiguren, die in einem konventionellen Rahmen mehr oder weniger belanglos agieren. Vielmehr stellt er den modernen Menschen in den Mittelpunkt. Damit trifft die Regie genau den Nerv der Gegenwart. Die hier thematisierten Probleme und Konflikte betreffen uns alle. Zu Beginn des ersten Aufzuges landet ein riesiges Schlauchboot voll von zeitgenössischen, von Anna Eiermann mit eleganten Anzügen versehenen Geschäftleuten, Bankern und Unternehmensberatern in einer von Susanne Gschwender und Rebecca Ringst kreierten stählernen Bucht (Bieito im Programmbuch). Diese geschniegelten Wohlstandspinkel, die der Regisseur im Programmbuch als Gestrandete unserer modernen Arbeitswelt, Überlebende unserer Leistungsgesellschaft bezeichnet, geben sich hier ein Stelldichein. Sie werden von Bieito recht kritisch unter die Lupe genommen. In ausgesprochen radikaler Art und Weise führt er dem Auditorium die Auswüchse der lediglich auf schnöden Mammon bedachten Finanzoberschicht vor Augen. Als deren Hauptvertreter erweist sich der als ausgemachter Materialist und Oberbanker gezeichnete Donald.

Knallhart hält Bieito dieser lediglich auf finanziellen Gewinn ausgerichteten, nur kapitalistisch denkenden Oberschicht den sprichwörtlichen Spiegel vor. Derart konfrontiert der katalanische Regisseur das Publikum auch mit der Schattenseite der Globalisierung. Deren Verirrungen infiltrieren die Gesellschaft und ergeben ein mentales Geisterschiff, dessen Kurs in den Untergang nicht mehr gestoppt werden kann. In Kühlschränken gehortetes rohes Fleisch zeugt von der ausgemachten emotionalen Kälte und Rohheit der Schotten, die – wenn es nur nützlich ist – auch vor der Ermordung von Babys nicht zurückschrecken. Skrupellos treten sie damit in die Fußstapfen von Herodes dem Großen. Die schlimmen Verhältnisse werden zudem durch einen transvestitenhaften, aus einer kleinen Hundehütte heraus auftretenden Zwergdämon symbolisiert. Diesen ordnet Bieito indes nicht dem Holländer zu, was eigentlich naheliegend wäre, sondern den Schotten, die von dem peitschenschwingenden Steuermann gnadenlos angetrieben werden. Nicht der holländische Kapitän, sondern sie sind vom Teufel besessen. Ein trefflicher Regieeinfall!

Der Holländer wird als Angehöriger der fragwürdigen Konsumgesellschaft gezeigt, der sich indes über die verderbliche Ausrichtung des Systems gänzlich im Klaren ist und ihm abgeschworen hat. Die weltlichen Güter, Reichtum und Besitz, sind für ihn bedeutungslos geworden. Weil er mit seiner Umwelt und seiner Arbeit nicht mehr zurechtkommt, wird er zum Aussteiger. Er mutiert zu einem überzeugten Widerständler gegen eine Gesellschaft, in der alles, die Liebe eingeschlossen, käuflich ist – letzteres belegen drei nur leicht bekleidete, brasilianisch wirkende Revuegirls – und deren angeblich so integren und hehren Wertvorstellungen nur Schall und Rauch sind. Das erkennt zu guter Letzt auch Georg und begehrt dagegen auf. Gleich dem Titelhelden ergreift er schließlich das Beil, um der desolaten Situation mit Gewalt abzuhelfen.

Staatsopernchor Stuttgart

Sentas Lage ähnelt derjenigen des Holländers. Sie krankt ebenfalls an ihrem Umfeld, in dem sie von ihrem eigenen Vater bereits während des schattenrissartig bebilderten Vorspiels missbraucht und brutal geschlagen wird. Verzweifelt versucht sie ihrem Gefängnis zu entkommen. Rette mich! schreibt sie mehrmals an die transparente Gitterwand ihres Kerkers. Dieser ist nicht real, sondern psychologisch zu verstehen. Ihr Hilferuf verebbt ungehört. Erst die Begegnung mit dem Holländer lässt sie neue Hoffnung schöpfen, ihrem trostlosen Schicksal zu entgehen. Die gegenseitige Liebe des Paares fußt jeweils auf der Solidarität mit den Leiden des anderen. Der dritte Aufzug bringt dann die Konfrontation. Die diametral entgegengesetzten Prinzipien prallen rigoros aufeinander. Der von der choreographischen Mitarbeiterin Lydia Steier – heute ist sie eine tolle Regisseurin! – ausgezeichnet choreographierte und von flackerndem Licht eingerahmte Geisterchor, in den sich auch ein Nackter mischt, kann als gewaltige symbolische Woge verstanden werden, die den technischen Abfall der lediglich gewinnorientierten Konsumwelt hinwegzuspülen trachtet. Die Mannschaft des Holländers schlägt sich auf die Seite der Liebenden. Bei geöffneten Parketttüren schreit sie mit äußester Kraft ihren Protest gegen das nicht totzukriegende Unrecht in die Welt hinaus. Hier wird in Anwendung Brecht’schen Gedankengutes auch der Zuschauerraum in das Spiel einbezogen. Ihr Aufbegehren ist aber nicht von Erfolg gekrönt. Die Verhältnisse werden sich auch künftig nicht ändern. Die Titelfigur wird in Gestalt eines Doubles in dem Schlauchboot des Anfangs sinnbildlich ans Kreuz geschlagen. Senta und der Holländer als zwei an der Gesellschaft gescheiterte Menschen müssen letztlich erkennen, dass es keinen Ausweg mehr für sie gibt. Gemeinsam schicken sie sich an, in den Tod zu gehen. Das war alles gut nachvollziehbar und wurde von Bieito mit Hilfe einer flüssigen Personenregie auch stringent umgesetzt. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag bei Valentin Schwarz.

Mit den Sängern konnte man fast durchweg zufrieden sein. John Lundgren ging bereits darstellerisch voll in der Rolle des Holländers auf. Sein Spiel war sehr intensiv. Auch gesanglich vermochte er mit markantem, bestens italienisch geschultem Heldenbariton voll zu überzeugen. Neben ihm war Elisabeth Strid eine schauspielerisch ebenfalls tadellose Senta, die ihrer Partie mit ebenmäßig geführtem, in jeder Lage kraftvollem und in der Höhe schön aufblühendem jugendlich-dramatischem Sopran gesanglich ebenfalls voll und ganz entsprach. Wunderbares sonores, dabei bestens fokussiertes Bass-Material brachte Liang Li für den Donald mit. Als Georg überzeugte der kraftvoll, dabei voll und rund intonierende Matthias Klink. Mit kräftiger, volltönender Altstimme wertete Fiorella Hincapie die kleine Partie der Mary auf. Lautstark, aber ohne die erforderliche Körperstütze seines Tenors sang Daniel Kluge den Steuermann. Den Dämon gab Manni Laudenbach. Einmal mehr auf hervorragendem Niveau präsentierte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

Ludwig Steinbach, 21.6.2019

Die Bilder stammen von Sebastian Hoppe und Martin Sigmund