Stuttgart: „Norma“

Besuchte Aufführung: 3.10.2019 (Premiere: 29.6.2002)

Die französische Résistance und der Nazi

Siebzehn Jahre sind seit der Premiere im Juni 2002 vergangen. In mehr als sechzig Vorstellungen hat diese Norma bisher ihre große szenische Kraft entfalten können. Nach der letzten Wiederaufnahmeserie war es fraglich, ob diese Produktion noch einmal gegeben würde. Umso erfreulicher ist es, dass sie jetzt noch einmal auf den Spielplan gesetzt wurde. Man merkt, diese Inszenierung, für die Jossi Wieler und Sergio Morabito verantwortlich zeigten, genießt inzwischen Kultstatus. Die beiden Regisseure haben wieder einmal ganz großes Können bewiesen und eine Regiearbeit geschaffen, die zum Besten gehört, was das Programm der Staatsoper Stuttgart derzeit zu bieten hat. Seit sie 2002 aus der Taufe gehoben wurde, hat diese geniale Produktion nichts von ihrer Kraft und Eindringlichkeit verloren. Das ist sicher auch Anika Rutkofsky zu verdanken, die mit der szenischen Leitung der Wiederaufnahme betraut war und ebenfalls hervorragende Arbeit geleistet hat.

Yolanda Auyanet (Norma), Staatsopernchor Stuttgart

Wie immer war die Personenführung des Regie-Duos Wieler/Morabito von großer Intensität und Spannung geprägt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen wurden einmal mehr aufs Beste herausgearbeitet. Nichts anderes hat man von ihnen erwartet. Alles wirkte wie aus einem Guss. Aber darauf haben sich die beiden Regisseure schon immer bestens verstanden. Langweilig wird es bei ihnen nie. Wie gebannt verfolgte man das Geschehen auf der Bühne. Wieler und Morabito haben die Handlung konsequent, logisch und schlüssig erzählt, wobei sie jeglichem altbackenem Kitsch eine klare Absage erteilen und das Stück gekonnt in einen modernen Kontext stellen.

Diana Haller (Adalgisa), Pollione

Das war von ihnen aber auch nicht anders zu erwarten. Gekonnt verlagern sie das dramatische Geschehen in den Zweiten Weltkrieg. Bei ihnen spielt sich die Handlung zur Zeit der Französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer ab. Dem recht zynisch gezeichneten Frauenhelden Pollione kommt dabei die Rolle des Nazis zu. Das war eine gute Idee. Der Kampf der Aufständischen gegen Hitlers Armee bildete eine treffliche Folie für das Geschehen. Auch in diesem variierten Ambiente wurde der Konflikt Normas offensichtlich. Hier wird eine mit sich selber uneinige Gesellschaft vorgeführt, der Norma als Priesterin vorsteht. Ihr Widerstand gegen die Barbarei des eigenen Volkes steht im Zentrum. Sie ist in diesem Regiekonzept keine Verräterin, sondern vielmehr Verfechterin ihrer Religion. Ihre kultischen Handlungen vollzieht sie im Gewand eines katholischen Priesters. Hier haben wir es mit einem eindringlichen Plädoyer des Regie-Duos an die katholische Kirche zu tun, auch Frauen das Priesteramt zu öffnen.

Yolanda Auyanet (Norma), Pollione, Diana Haller (Adalgisa)

Mit Blick auf diesen Regieeinfall ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch Bühnenbildnerin Anna Viehbrock diese Thematik aufgreift. Sie hat einen ziemlich maroden, heruntergekommenen Kirchenraum geschaffen, in dem sich die gut bürgerlich gekleideten französischen Widerstandskämpfer versammeln. Anhand einer fahrbaren Totenbahre, auf der eine Leiche liegt, frönen sie einem fragwürdigen Totenkult. Nachhaltig stellen Wieler und Morabito die Frage in den Raum, ob eine Religion, die sich derartiger Mittel bedient, die Richtige ist. Im Vordergrund wird die Messe abgehalten, der Hintergrund ist dem Volk vorbehalten. Beide Bereiche sind durch ein eisernes Gitter voneinander getrennt. Im Messebereich ist ein Waffenlager in den Boden eingelassen, das im zweiten Akt geräumt wird. Der Aufstand steht unmittelbar bevor. Nur Norma kann ihn noch verhindern. Sie wohnt mit ihren beiden Kindern in einem Seitenflügel der Kirche in einem Privatraum. Dort sieht man eine Truhe, ein an der Wand hängendes Telefon und zwei Schränke. Einer enthält ein ausfahrbares Bett, der andere Kleider Polliones. Als Norma klar wird, dass ihr Geliebter sie betrogen hat, räumt sie den Kleiderschrank leer. Die Hemden verstaut sie in einem Koffer, die Schuhe wirft sie ihm voller Wut an den Kopf. Auch seiner Pistole hat sie sich bemächtigt. Ihren anfänglichen Vorsatz, ihre Kinder zu töten, kann sie aber nicht ausführen. Als Zeichen für die Gefahr, in der sich die Kinder befinden, fungiert hier ein Ball. Diesen kann man als surreales Element verstehen, das gleichsam als Alptraum Normas über die Bühne rollt. Ein regelrecht unter die Haut gehender Regieeinfall war es, wenn sich die Kinder am Ende von außen verzweifelt gegen die geschlossene gläserne Tür pressen, um noch einen letzten Blick auf ihre dem Tod geweihte Mutter zu erhaschen.

Yolanda Auyanet (Norma), Statisterie

Hoch zufrieden sein konnte man mit Yolanda Auyanet, die sowohl darstellerisch als auch gesanglich alle Register der Titelpartie zog. Mit enormer Ausstrahlung und intensivem Spiel war sie schon rein äußerlich sehr überzeugend. Wenn dann noch ein in allen Lagen gut sitzender, farbenreicher und die Koloraturen als auch die lyrisch-emotionalen Passagen gleichermaßen phantastisch bewältigender Sopran dazukommt, ist das Glück vollkommen. Ohne Zweifel ist Frau Auyanet eine der besten derzeitigen Interpretinnen der Norma. Übertroffen wurde sie indes von Diana Haller, die eine ausgezeichnete Adalgisa sang. Sie verfügt über einen wunderbar anmutenden, hervorragend fokussierten, tiefgründig und gefühlvoll klingenden Mezzosopran, der sich in erster Linie durch hohe Ausdruckskraft und eine herrliche Phrasierungskunst auszeichnete. Das war die beste Leistung des Abends! Das hohe Niveau seiner beiden Mitstreiterinnen konnte der Pollione von Norman Reinhardt nicht halten. Sein eher lyrischer Tenor vermochte den Anforderungen dieser einen italienischen Heldentenor erfordernden Partie nicht in jeder Beziehung gerecht zu werden. Zwar sang er insgesamt solide im Körper, ließ aber dramatischen Glanz und Strahlkraft der Stimme vermissen. Und die extreme Höhe ist noch ausbaufähig. Mit voll und rund klingendem Bass gab David Steffens einen ansprechenden Oroveso. Recht maskig klang Moritz Kallenberg s Flavio. Tadellos entledigte sich die Clotilde von Jie Zhang ihrer Aufgabe. Die beiden stummen Kinder wurden von Marlene Schwind und Fred Löthe gefällig dargestellt. Mächtig legte sich der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart ins Zeug.

Yolanda Auyanet (Norma), Diana Haller (Adalgisa)

Am Pult gefiel der noch junge italienische Dirigent Giacomo Sagripanti, der das versiert aufspielende Staatsorchester Stuttgart zu einem rhythmisch sehr ausgefeilten Spiel animierte und zudem mit vielerlei Nuancierungen aufwartete. Seine Herangehensweise an Bellinis Partitur war recht prägnant und von ziemlich raschen Tempi geprägt. Gekonnt setzte er einen Höhepunkt nach dem anderen und war den Sängern dabei immer ein umsichtiger Begleiter.

Fazit: Eine bereits legendäre Aufführung, deren Wiederaufnahme Freude bereitete!

Ludwig Steinbach, 4.10.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund