Stuttgart: „La Traviata“

Besuchte Aufführung: 20.9.2019 (Premiere: 8.5.1993)

Einsamkeitsstudien und Gesellschaftskritik

Zur Eröffnung der neuen Spielzeit setzte die Stuttgarter Staatsoper eine absolute Kult-Inszenierung wieder auf den Spielplan: Verdis La Traviata in der Regie von Ruth Berghaus, dem Bühnenbild von Erich Wonder und den Kostümen von Marie-Luise Strandt. Das war wieder einmal ein Opernabend allererster Güte. Diese hoch gelungene Produktion, die in den 26 Jahren ihres Bestehens nichts von ihrer großen Kraft und Eindringlichkeit verloren hat, ist immer wieder sehenswert. Wie gebannt folgte man dem Geschehen auf der Bühne, das Lars Franke auf hohem Niveau neu einstudiert hatte. Frau Berghaus’ Regiearbeit vermochte nach wie vor in hohem Maße zu fesseln. Bereits 1996 verstorben war sie schon eine Meisterin ihres Fachs.

Elena Tsallagova (Violetta), Pavel Valuzhin (Alfredo), Staatsopernchor Stuttgart

Das kann nicht bestritten werden. Es ist phantastisch, wie ausgefeilt, stringent, handwerklich perfekt, spannend und von einer überzeugenden geistigen Warte aus die versierte Schülerin Bertolt Brechts Verdis Werk umgesetzt hat und insbesondere bei der hervorragenden Führung des Chors ihre Herkunft vom Ausdruckstanz erkennen ließ. In Sachen Personenführung gab es nicht das Geringste auszusetzen. In dieser Beziehung war Ruth Berghaus einfach perfekt. Und auch ihre konzeptionelle Herangehensweise an das Stück vermochte voll zu überzeugen. Sie hat das Werk von jeglichem überflüssigen romantischen Ballast befreit und knallharten Realismus gepaart mit hohen Emotionen und einem kräftigen Schuss Gesellschaftskritik auf die Bühne der Württembergischen Staatsoper gebracht. Wärme sucht man in dieser Inszenierung vergebens. Das fast durchweg dunkel ausgeleuchtete Bühnenbild wirkt karg und nüchtern. Kein aufgesetzter äußerer Prunk lenkt hier von der Essenz der Handlung ab. Diese sieht die Regisseurin in Isolation und Verlassenheit.

Bei ihr sind fast sämtliche Handlungsträger in irgendeiner Form allein – das selbst dann, wenn sie sich mitten in der Gesellschaft bewegen. Wir sehen uns mit großangelegten Einsamkeitsstudien konfrontiert, die Frau Berghaus hier gekonnt vorführt. Violetta ist in ihrem eleganten weißen Hosenanzug inmitten der gänzlich schwarz gewandeten Festgäste im ersten Akt, der in einer Hotelhalle spielt, eine Außenseiterin, die von der Gemeinschaft durch unmissverständliche Gesten ins Abseits gestoßen wird. Sie kann ihre Liebesdienste anbieten so viel sie will, einen Platz in dieser sich einigen, synchron bewegenden Masse kann sie nicht erringen. Vater Germont leidet ebenfalls unter seiner Verlassenheit. Diese ist es, die den irgendwie erstarrten Geschäftsmann, der erst bei seiner großen Arie Di Provenza Gefühle zeigt, bewegt, von Violetta den Verzicht auf seinen Sohn einzufordern. Das Glück seiner Tochter erscheint nur als Vorwand zur Erreichung des anderen, nicht egoistisch aufzufassenden, sondern menschlich durchaus verständlichen Zwecks, den nach Paris entschwundenen Alfredo wieder bei sich in der Provence zu haben. Dass er damit aber Violetta erneut in die Isolation zurückstößt, stellt die eigentliche Tragik seines Handelns dar.

Elena Tsallagova (Violetta), Pavel Valuzhin (Alfredo)

Der Gefühlskälte, die Germont im zweiten Akt an den Tag legt, entspricht es, dass Frau Berghaus das Duett zwischen ihm und Violetta im Außenbereich eines ausgedienten Kontors inmitten einer Schneelandschaft ansiedelt. Die sich bis an die Rampe erstreckenden Schienen vermögen der Protagonistin die ersehnte Freiheit nicht zu bringen. Der symbolische Zug in ein unbeschwertes Glück wird nicht abfahren. Kälte wird auch zukünftig federführend sein, was nur allzu deutlich wird, wenn im dritten Bild auf einmal Schneetreiben einsetzt. Es gehört zu den eindringlichsten Bildern der Inszenierung, wenn Violetta inmitten des Schnees versucht, ihre geliebten weißen Kamelien zu pflanzen – ein Unterfangen, das angesichts der kalten Jahreszeit in gleicher Weise zum Scheitern verurteilt ist wie der damit einhergehende sinnbildliche Versuch der Titelfigur, Wärme zu erzeugen. Ihre Demütigung durch Alfredo im dritten Bild stellt ebenfalls eine Meisterleistung der Regie dar. Gänzlich mittel- und obdachlos geworden endet sie im dritten Akt unter einer dürftigen, armseligen Brücke. Ein nach oben führender Schacht beherbergt ihr Bett. Dieses immens unter die Haut gehende Bild tiefster sozialer Tristesse und individuellen Elends stellt den Höhepunkt von Ruth Berghaus` gelungener Regiearbeit dar, deren eindringlicher Schluss die Abrechnung der Regisseurin mit einer Gesellschaft zeigt, in der echte Gemeinschaften nicht wirklich entstehen können. Wenn die beteiligten Personen bei Violettas Tod weit auseinanderstehen und kaum noch Notiz von ihr nehmen, wird die sozialkritische Botschaft von Frau Berghaus offenkundig. Dieser pessimistische Schluss hat heute noch in demselben Maße seine Berechtigung wie bei der Premiere im Jahre 1993. Es sind gerade dieser hochexplosive soziale Sprengstoff sowie das Plädoyer der Regisseurin für echte Gemeinschaften und menschlichen Zusammenhalt, die ihre Regiearbeit nach wie vor hoch aktuell erscheinen lässt. Diese hochinteressante Produktion stellt ein absolutes Meisterwerk dar!

Elena Tsallagova

Auch mit den gesanglichen Leistungen konnte man voll zufrieden sein. Elena Tsallagova ging schon darstellerisch voll und ganz in der Rolle der Violetta auf. Ihr Spiel war äußerst eindringlich und emotional. Gesanglich entsprach sie ebenfalls vollauf der schwierigen Partie, deren vielfältige Klippen von ihr mühelos gemeistert wurden. Ihr prachtvoller Sopran zeigte sich beim von einem famosen hohen es gekrönten Sempre libera, das den Höhepunkt des Abends bildete, ausgesprochen koloraturgewandt. Darüber hinaus verfügte er aber auch über viel Gefühl und wurde recht differenziert und nuanciert eingesetzt. Neben ihr bewährte sich als Alfredo Pavel Valuzhin. Hier haben wir es mit einem noch jungen Sänger zu tun, der über einen schlanken, indes gut gestützten Tenor verfügt und gut auf Linie singt. Auch seine Pianokultur war vorbildlich. Seinen beiden Mitstreitern in nichts nach stand Luis Cansino, der in der Partie des Germont mit einem profunden, volltönenden, trefflich fokussierten und ebenfalls über schöne leise Töne verfügenden Bariton nachhaltig überzeugte. In den Rollen von Flora und Annina erbrachten Ida Ränzlöv und Alexandra Urquiola ansprechende Leistungen. Ein solider Gaston war Elmar Gilbertsson. In den Rollen von Baron Douphol und Marchese d´ Obigny gefielen Elliott Carlton Hines und Andrew Bogard. Tadellos sang Jasper Leever den Dr. Grenvil. Rüdiger Knöß (Giuseppe), Daniel Kaleta (Diener) und Sebastian Bollacher (Bedienter) rundeten das homogene Ensemble solide ab. Einen guten Eindruck hinterließ einmal mehr der von Manuel Pujol bestens einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

Beglückendes kam aus dem Orchestergraben. Friedrich Haider am Pult wartete mit einer sehr geradlinigen und emotional angehauchten Leistung auf. Der von ihm und dem versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart erzeugte Klangteppich war an keiner Stelle zu laut und wirkte insgesamt schön leise und kammermusikalisch. Die verschiedenen Stimmungen wurden von dem Dirigenten trefflich ausgelotet und auch die Transparenz geriet vorbildlich.

Fazit: Ein Meilenstein hochkarätigen Musiktheaters, der jedem Opernfreund aufs Beste empfohlen werden kann.

Ludwig Steinbach, 22.9.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund