Stuttgart: „Rigoletto“

Besuchte Aufführung: 17.11.2018 (Premiere: 28.6.2015)

Der agent provocateur und die Französische Revolution

Sie ist immer wieder sehenswert, Jossi Wieler s und Sergio Morabito s bereits aus dem Jahr 2015 stammende Inszenierung von Verdis Rigoletto an der Staatsoper Stuttgart. Hier haben wir es mit einer der besten Deutungen des Stücks zu tun. Die beiden Regisseure haben es ausgezeichnet verstanden, einerseits das Werk in einen völlig neuen Kontext zu stellen, andererseits aber dessen originalem Subtext voll Rechnung zu tragen. Erstaunlicherweise sind sie mit ihrer Interpretation näher an dem Stück geblieben, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Was sie auf die Bühne gebracht haben, entsprach voll und ganz Verdis Intentionen. Die innere Handlung haben Wieler und Morabito sehr ernst genommen und an keiner Stelle angetastet. Obendrein zeichnete sich ihre gelungene Regiearbeit durch eine meisterhafte Verquickung von tragischen mit heiteren Momenten aus, die sehr zur Kurzweiligkeit des Abends beitrug. Darin bestand ein Hauptanliegen des schon oft bewährten Regieduos, das das Libretto und seine Rezeption in der Vergangenheit äußerst gewissenhaft unter die Lupe genommen hat.

Auch die Personenregie war durchweg spannend, flüssig und stringent. Aber darauf haben sich die beiden Regisseure ja schon immer trefflich verstanden. Das gilt nicht nur für die Solisten, sondern in besonderem Maße auch für den Chor, der hier nicht als einheitliches Kollektiv erscheint, sondern von Wieler und Morabito überzeugend in eine Vielzahl von Individuen mit unterschiedlichen Charakteren aufgespalten wird. Unter den von Nina von Mechow mit schwarzen Gewändern versehenen Höflingen gibt es einige, deren Niedertracht von vornherein offenkundig ist, aber auch solche, die der verwerflichen Gesinnung der Anführer skeptisch gegenüberstehen und deren Tun verurteilen. Die Aufzeigung der verschiedenen Wesenheiten ist dem Regieduo ganz ausgezeichnet gelungen. Was Regietechnik betrifft, sind sie Meister ihres Fachs. Aber auch ihr Konzept ging voll auf.

Sergio Morabito bringt die Handlung im Programmbuch mit dem Theater der Grausamkeit in Verbindung. Dieses weist neben Artaud auch Elemente eines Beckett oder Brecht auf. In diesem Punkt können die Meinungen auseinandergehen. Brecht jedenfalls huldigt das Regieduo in seiner Inszenierung deutlich, und zwar durch das Prinzip des Theaters auf dem Theater. Dieses ist zwar nicht mehr neu, aber immer wieder effektiv. Hier ist es der Hofstaat des Duca, der auf diese Weise dem Auge des Publikums präsentiert wird – oder auch nicht, den er bleibt unsichtbar, verborgen hinter einer Brecht’schen Gardine, die dem Hauptvorhang des Stuttgarter Opernhauses ähnelt und unter dem sich zu Beginn der Duca und Borsa total betrunken hervorrollen. Brecht binden Wieler und Morabito ferner durch die Einbeziehung des Zuschauerraumes in die Produktion ein. Sie lassen Monterone seinen Fluch gegen den Duca und Rigoletto von der Königsloge im ersten Rang aus singen. Im zweiten Akt ist einer der Entführer Gildas in einer seitlichen Beleuchtungsloge positioniert.

Wenn sich der Vorhang des Theaters auf dem Theater hebt, sieht man eine von Bert Neumann geschaffene, karg und düster anmutende Hinterhof-Fassade vor dem Prospekt einer demolierten grauen Stadtansicht, die im dritten Akt von revolutionärem rotem Feuerschein bedeckt wird. Die Revolution ist es dann auch, an der die beiden Regisseure ihre Konzeption fest machen. Sie führen Rigoletto, der hier noch den traditionellen Buckel trägt, als begeisterten Anhänger der Französischen Revolution vor. Er hat sich nur zu dem Zweck als Hofnarr in das Gefolge des Duca gemischt, um von dort aus den Aufstand vorzubereiten. Sein ganzes Leben stellt er in den Dienst der Revolution. Strenggenommen ist es aber gar nicht sein eigenes Dasein, das er lebt, sondern – entsprechend dem Prinzip des Theaters auf dem Theater – nur eine Rolle, die er spielt. Ständig stiftet er als agent provocateur seine Umwelt zu Verbrechen an, um das Terrorregime des Duca von innen heraus zu zerstören. Die Bevölkerung wird von ihm nachhaltig zur Revolution angehalten. Zu diesem Zweck macht er sich bewusst lächerlich. So legt er beispielsweise denselben Königsmantel an, den Napoleon auf Jacques-Louis Davids berühmtem Bild der Kaiserkrönung trägt. Mit derartigen Chiffren spielen Wieler und Morabito gerne, viel und effektiv. Der im zweiten Bild des ersten Aktes auf die Wand geschriebene Spruch Vivat Verdi, der auf die politische Situation in Italien zu Lebzeiten des Komponisten anspielt, ist nur eine davon. Auch machen die Regisseure immer wieder deutlich, dass es sich hier um ein Spiel im Spiel handelt, so zum Beispiel, wenn sich das Bühnenbild mit Hilfe der Drehbühne um seine eigene Achse dreht und dabei die Rückseite der Aufbauten in all ihrer Nüchternheit sichtbar wird. Dieser Ansatzpunkt ist durchaus logisch. Schon William Shakespeare sagte ja, dass die ganze Welt nur eine Bühne sei und alle Menschen in ihr nur Spieler wären. Damit sind Wieler und Morabito bei der Literatur angelangt, für die sie ebenfalls eine große Vorliebe zu haben scheinen.

Indes wird hier nicht Shakespeare gehuldigt, sondern Victor Hugo, von dem auch die dichterische Vorlage Le roi s’amuse von Verdis Oper stammt. Hugos Roman Les Miserables scheint das Regieduo besonders zu schätzen. Die ganz unkonventionell bereits im ersten Akt in Männerkleidern erscheinende Gilda setzen sie gekonnt mit dem Gassenjungen Gavroche aus Hugos Buch gleich. Sie weist hier überhaupt keine weiblichen Züge auf, sondern wird als echter Jakobiner gedeutet. Rigoletto, der mit ihr ein äußerst kameradschaftliches Verhältnis pflegt, hat sie mit Unerstützung Giovannas zu einer ausgemachten Revolutionärin erzogen, die sich mit den Idealen der Französischen Revolution voll und ganz identifiziert. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schreibt sie in französischer Sprache auf riesige Papierblätter. Diese hängt sie dann an einer Wäscheleine zum Trocknen auf. Rigolettos Erziehung ist von Erfolg gekrönt. Gerade ihr von der Tradition abweichendes männliches Outfit ist es, das sie für den Duca erst interessant macht. Der Reiz des Andersartigen zieht ihn heftig an und lässt ihn Gilda begehren. Mit ihrem burschikosen Erscheinungsbild kann er sich auf Dauer aber dann doch nicht anfreunden. Erfolgreich lehrt er das Mädchen die Freuden des Frauseins. Er schenkt ihr ein prachtvolles Herrscherinnenkleid sowie ein Diadem. Derart ausgestattet tritt sie im zweiten Akt ihrem verzweifelten Vater gegenüber. Nun beginnt sie, sich von den Werten Rigolettos abzuwenden. Nachhaltig fühlt sie sich zur Glamour-Welt ihres adeligen Verehrers hingezogen und rebelliert zunehmend gegen die Ideale ihres Vaters. Diesem bleibt nur die Möglichkeit, ihr im dritten Akt, in dem sie wieder als Jakobiner erscheint, ein Bild des Duca vorzugaukeln, das dem wahren Charakter des Herrschers eher nicht entspricht. Damit ist er zwar durchaus erfolgreich, der Schuss geht aber nach hinten los. Wenn sich Rigoletto am Ende von der in einem konventionellen Leichensack ihr Leben aushauchenden Gilda – überhaupt nicht der liebevolle, fürsorgliche Vater, sondern der fanatische Revolutionär – mitleidlos distanziert, wird nur allzu deutlich, dass sie für ihn nur ein Mittel zum Zweck war. Unter dem teilnahmslosen Blick der still im Hintergrund sitzenden Höflinge steigt er zu den Schlusstakten eine Treppe hinauf. Er ist auf der ganzen Linie gescheitert. Das war alles trefflich durchdacht und hervorragend umgesetzt. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme hatte Geertje Boeden. Und sie hat gute Arbeit geleistet.

Auch die gesanglichen Leistungen bewegten sich auf hohem Niveau. Eine hervorragende Leistung erbrachte Dimitris Tiliakos, der sich als erste Wahl für den Rigoletto erwies. Er verfügt über einen ungemein kräftigen, klangvollen und eine phantastische italienische Technik aufweisenden hellen Bariton, den er differenziert und nuancenreich einzusetzen wusste und das Auditorium zu Recht begeisterte. Der große Applaus am Ende war nur zu berechtigt. Nicht minder gut vermochte der einen virilen, frischen und bestens fokussierten Tenor in die Partie des Duca einbringende Pavel Valuzhin zu gefallen. Hoch in der Gunst der Zuschauer stand Beate Ritter, die mit ebenmäßig geführtem, sauber dahinfließendem und höhensicherem Sopran eine gute Gilda sang. Ein markanter, bassgewaltiger Sparafucile war Adam Palka. Als Maddalena überzeugte die einen trefflich gestützten Mezzosopran ihr eigen nennende Stine Marie Fischer. Auch an der solide singenden Giovanna von Maria Theresa Ullrich gab es nichts auszusetzen. Ein überzeugender Monterone war David Steffens. Mit eleganter Baritonstimme wertete Pawel Konik die kleine Rolle des Marullo auf. Auf die Entwicklung dieses Sängers kann man schon gespannt sein. Ordentlich sang Kai Kluge den Borsa. Als Gräfin von Ceprano gefiel Aoife Gibney. Ansprechend gab Jasper Leever den Grafen von Ceprano. Von William David Halbert s sonor singendem Gerichtsdiener hätte man gerne mehr gehört. Ein recht dünnstimmiger Page war Philipp Nicklaus. Prächtig entledigte sich der von Manuel Pujol perfekt einstudierte Herrenchor der Staatsoper Stuttgart seiner Aufgabe.

Trefflich zu gefallen vermochte Giuliano Carella am Pult, der das versiert aufspielende Staatsorchester Stuttgart zu einem präzisen, intensiven und ausgewogenen Spiel animierte und auch auf Transparenz gesteigerten Wert legte.

Fazit: Ein in jeder Beziehung hervorragender Abend, der jedem Opernfreund dringendst ans Herz gelegt wird!

Ludwig Steinbach, 18.11.2018

Die Bilder stammen von Martin Sigmund