Berlin: „Die Sache Makropulos“

Premiere am 13.2.2022

Sehens- und hörenswerte Neuproduktion

Eine Lieblingsrolle für alle Primadonnen, denen es nicht nur auf Schöngesang, sondern auf die komplexe Darstellung aller Facetten einer Bühnenfigur ankommt, ist die Emilia Marty aus Janaceks Die Sache Makropulos, denn welche Figur füllt eine weitere Spanne zwischen Lebensgier und Todessehnsucht, Verführungskraft und Abscheu, entlarvendem Text und verschleiernder Musik aus als die schöne Dreihundertjährige. Die Berliner Staatsoper hat sie jetzt mit dem Janáček-Verehrer Sir Simon Rattle zum allerersten Mal ins Repertoire aufgenommen, an der Deutschen Oper Berlin gab es sogar zwei Neuproduktionen in den letzten 25 Jahren, beide allerdings nicht von langer Lebensdauer, denn das typische Opernpublikum empfindet das Werk als spröde. In Turin war Raina Kabaivanska in der Regie von Luca Ronconi eine facettenreich schillernde Figur zwischen bedrohlichen Aktenregalen. (Übrigens hatte in der Produktion José Cura als Albert Gregor seinen Durchbruch in Italien.) In Berlin erstieg Karan Armstrong die ins Unendliche führende Wendeltreppe in der Inszenierung von Günter Krämer, ehe ihr Evelyn Herlitzius, angeleitet von David Hermann, in einer Neueinstudierung folgte. Anja Silja, natürlich, Laura Aikin und Angela Denoke haben Maßstäbe gesetzt in einer Rolle, die nicht zuletzt daraus, dass eine Opernsängerin eine Primadonna spielt, ihren besonderen Reiz bezieht.

Wohl auch aus Liebe zu der Primadonna, die der 38 Jahre ältere Komponist Janáček jahrzehntelang hoffnungslos verehrte, der Sopranistin Kamila Stössovà verwandelte er die in der Komödie mit sarkastischem Lachen von der Welt scheidende Emilia in ein Mitleid verdienendes, zum Philosophieren neigendes und anregendes Geschöpf, bekannte sich offen dazu, wenn er schrieb: „Ich mache sie wärmer, damit die Leute Mitleid mit ihr haben. Ich werde mich noch in sie verlieben“. Dazu hatte ihn Karel Čapek, den er nur einmal vor Beginn der Arbeit am Textbuch getroffen hatte, ausdrücklich ermächtigt. 1922 war die Komödie in Prag uraufgeführt worden, 1923 trafen sich Dichter und Komponist, 1926 erfolgte die Uraufführung der Oper in Brünn.

In dieser Zeit siedelt Claus Guth seine Produktion an, ließ sich von Étienne Pluss eine aus lauter Vorzimmern bestehende Bühne bauen, dazu einen von Trockeneis durchwogten Raum, in den sich Emilia Marty zurückziehen kann, wenn sie eigentlich nicht auf der Szene sein sollte. Sie selbst ist streckenweise vierfach auf der Bühne, immer wieder einmal als kleines Mädchen wie dem Gemälde der Infantin von Velasquez entsprungen, dann als ihre Bühnenrolle „Butterfly“ und als altes Weib am Stock. Auch tummelt sich allerlei Volks, oft zusammengequetscht in Fahrstühlen, als Büroboten oder Kellner zusätzlich zum vorgesehenen Personal auf der Bühne. Das alles schafft viel Aktion und Atmosphärisches, lenkt aber auch von der sowieso schon schwer verständlichen Handlung ab, von der Geschichte, die als Erbstreit beginnt und als Diskurs über den Wert oder Unwert der Unsterblichkeit endet. Der Knabe, der mit der Regierenden Bürgermeisterin der Vorstellung beiwohnte, dürfte recht verwirrt nach Hause gegangen sein. Zur Zwanziger-Jahre-Atmosphäre tragen auch die Kostüme von Ursula Kudrna bei, und insgesamt kann man mit der Optik der Produktion mehr als zufrieden sein, wird sie dem Stück doch gerecht und unterstützt sie die Wirkung der Musik.

Die erklingt aus einem weit herabgesenkten Orchestergraben zunächst sehr dominant, ehe sich allmählich Bühne und golfo mistico aufeinander einstellen und gegenseitig ihre Wirkung auf den Zuschauer verstärken. Sir Simo Rattle hat sich offensichtlich mit der Idee der Regie anfreunden können, vor jedem Akt minutenlang ein schweres Atmen, man denkt zunächst auch erst einmal an Wind, ehe man sich darauf einstellt, dass hier jemand und es muss natürlich Emilia Marty sein, mühsam um Luft ringt. Umso farbenprächtiger, leuchtender und machtvoller klingt dann Janaceks Musik, wenn sie endlich einsetzen darf.

Zunächst ganz auf den Konversationston des Stückes ein lässt sich Marlis Petersen, ehe sie mit dem Schlussmonolog ihrem aussagestarken Sopran die Freiheit lässt, sich zu entfalten, zu strömen und in vielen Farben zu schillern. Ein ebenbürtiger Partner ist ihr Bo Skovhus als Jaroslav Prus, der wie kein anderer der vielen Mitwirkenden auch die Bühne zu beherrschen versteht. Stimmlich und szenisch sehr präsent ist auch Ensemblemitglied Jan Martinik als Dr. Kolenaty. Noch skurriler könnte man sich den Auftritt von Hauk-Sendorf denken, den Jan Jezek verkörpert. Tenorreich ist das Werk mit drei weiteren Vertretern der Spezies: Ludovit Ludha als Albert Gregor, der natürlich idiomatisch korrekt, aber eher als Charaktertenor durchgehen kann, denn als Liebhaber, Spencer Britten als Janek mit schönem lyrischen Tenor und Peter Hoare als Vitek, ebenfalls angenehm klingend und höchst präsent, was die Darstellung betrifft. Richtig schön orgeln kann inzwischen Adriane Queiroz als Putzfrau.

Nach Fanciulla und Rosenkavalier kann die Staatsoper eine weitere Produktion verbuchen, die repertoiretauglich ist, weil sie Neues im Werk entdecken lässt, ohne es zu entstellen.

Ingrid Wanja / 13.2.2022

© Fotos: Monika Rittershaus