Berlin: „Elektra“

Premiere am 23.10.2016

Einfach wunderbar

Nicht beklagen können sich Berliner Elektra-Freunde, denn neben den konzertanten Elektren von Christian Thielemann und Marek Janowski in den vergangenen Jahren gibt es regelmäßig die höchst achtbare szenische Elektra in der Regie von Kirsten Harms in der Deutschen Oper, und in allen sang Waltraud Meier die Klytämnestra. Auch da Berlin schon der fünfte Aufführungsort von Patrice Chéreaus Inszenierung der Strauss-Oper nach Aix, Mailand und der Met und Helsinki im vergangenen September ist, von zweien dieser Aufführungsorte bereits DVDs bestehen und die Besetzungen der drei Hauptpartien bis auf die Elektra von Nina Stemme an der Met dieselben sind, war die Spannung, mit der man dem Premierenabend entgegen sah, nicht die allergrößte. Da wusste man noch nicht, dass man dem seit langer Zeit in Berlin interessantesten, bewegendsten und mitreißendsten Opernabend entgegen sah, den Intendant Jürgen Flimm mit den Worten „Alles, was wir können und wollen, legen wir ihm (Chéreau) zu Füßen“, eröffnet hatte.

Wie konnte das geschehen? Patrice Chéreau, der bereits die Mailänder Aufführungen nicht mehr erlebte, die Elektra ist sein letztes Regiewerk, siedelt das Werk in einer nicht näher zu bestimmenden Moderne an (Kostüme Caroline de Vivaise), bei einem dem Mythos verpflichteten Thema, der Frage, ob das Rächen des Mordes am Vater den Muttermord rechtfertigt (Die Erinnyen warten schließlich schon an der nächsten Ecke auf Orest.) ist das nicht zu beanstanden, betont vielmehr die Zeitlosigkeit des Themas. Bühnenbildner Richard Peduzzi lässt das Stück in einem wie zu einem Gefängnis gehörenden Innenhof spielen, Grau ist die alles beherrschende Farbe, Türen sind so niedrig, dass man sich bei ihrem Durchschreiten bücken muss, eine Nische oder eine Grube bieten Elektra einen Zufluchtsort. Ehe die Musik einsetzt, kann man die Mägde bereits bei der Hofsäuberung sehen und durchaus auch hören, denn mit Besen und Eimer wird geräuschfreudig umgegangen. Auffallend ist die sorgfältige Personenregie auch für die kleinsten Partien, die ganz neue Sichtweisen auf das Werk ermöglicht, auch die Mägde, nicht nur die mitleidige fünfte, zu unverwechselbaren Figuren werden lässt. Da muss das die Ideen von Chéreau bewahrende Regieteam (Peter McClintock und Vincent Huguet), das sich nach Vorstellungsende nicht zeigte, sorgfältige Arbeit geleistet haben. Am Schluss gibt es keinen im Tode endenden Triumphtanz Elektras, sondern einfach ihr Verlöschen, im Hof liegen die Leichen von Aegysth, dieser vom Pfleger des Orest erstochen, und Klytämnestra, und „Orest bricht wieder auf, unbemerkt und einsam“, so die Inhaltsangabe Chéreaus im Programmheft.

Die bisherigen Aufführungen in Aix, Mailand, New York und Helsinki hatte sämtlich Esa-Pekka Salonen geleitet, in Barcelona, wohin die Produktion noch in diesem Jahr geht, wird Josep Pons der Dirigent sein. Die Leistung der Staatskapelle unter Daniel Barenboim dürfte schwerlich zu erreichen sein, so schattierungsreich, so differenzierend in den schillernden Orchesterfarben, so durchsichtig bei aller Klanggewalt hatte man dieses Werk noch nie zuvor gehört, und zum ersten Mal war der Gesamteindruck nicht „laut“, sondern ungeheuer vielfältig, bereits sogar schmeichelnde Rosenkavalierklänge vorausahnen lassend.

Wie bereits bei der Zarenbraut oder in den Meistersingern fanden auch in dieser Produktion hochverdiente ältere Sänger ihren Platz, so der neunzigjährige Franz Mazura mit viel Bühnenpräsenz als Pfleger des Orest, Cheryl Studer als Vertraute und Aufseherin, Donald McIntyre als Alter Diener und Roberta Alexander als bis auf den Spitzenton noch immer stimmpotente Fünfte Magd; und dass eine Marina Prudenskaya in zwei kleinen Partien wie Schleppträgerin und Zweite Magd auftritt, dürfte wohl auch in keinem anderen Haus zu finden sein.

Geradezu eine Offenbarung war der Orest von Michal Volle, der in Gesang und Spiel einen so menschlichen, so vom unvermeidbaren Schicksal getriebenen Atridensohn gab, dass man zum ersten Mal wahrnahm, wieviel Tragik in dieser Figur versammelt ist und zugleich wieviel Menschlichkeit. Die Szene zwischen Bruder und Schwester trieb dem Zuschauer die Tränen in die Augen. Einen jugendlichen Aegysth, auch vokal kein bisschen angejahrt, wie es sonst nicht selten der Fall ist, sang Stephan Rügamer. Weniger Zurückhaltung als aus den letzten Aufführungen erinnerbar, zeigte Waltraud Meier als Klytämnestra, nicht die Hysterikerin, sondern die seelisch zutiefst Zerrüttete hervorkehrend und, abgesehen von der tieferen Lage, auch stimmlich in guter Verfassung. Einen wunderbar runden, warmen und farbenreichen Sopran konnte Adrianne Pieczonka für die Chrysothemis einsetzen. Für Evelyn Herlitzius‘ Elektra muss eigentlich das abgestandene „Sie spielt und singt nicht Elektra, sie ist Elektra“ herhalten, denn intensiver, hingebungsvoller, dabei textverständlicher und unangefochtener gegenüber den Orchesterwogen kann man diese Partie nicht gestalten. Jedem Opernfreund in und im weiten Radius um Berlin kann man nur zu einem Besuch raten.

Fotos Monika Rittershaus

23.10.2016 Ingrid Wanja