Berlin: „Hippolyte et Aricie“

Zum Zweiten

29.11.2018

Natürlich könnte man Rameaus Oper um Menschen, Halbgötter und Götter als modernes Sex and revenge Drama – reife Frau begehrt Stiefsohn, der aber liebt einzigen Spross der Erzfeinde, Ehemann ertappt Sohn beim vermeintlichen Koitus mit Gemahlin, nachdem er die Frau eines Potentaten entführen wollte etc. – im Ambiente einer Villa der Schönen und Reichen ansiedeln, mit Damen in Highheels und Männern in grauen Businessanzügen, mit schmucklosen Betonwänden und schicken Ledersofas – so wie es in austauschbarer Weise mit manchen Opern an vielen Opernhäusern in deutschsprachigen Landen geschieht.

Diesen Weg schlägt die Staatsoper Berlin mit ihrer Neuproduktion von Hippolyte et Aricie zum Glück nicht ein. Hier setzt man auf die assoziativen Kunsträume des dänisch-isländischen Künstlers Ólafur Elíasson, welcher mit seinem kongenialen Konzept aus Licht, Bühne und Kostüm – wie bereits 2007 an diesem Haus mit Henzes Phaedra – ein faszinierendes Ambiente schafft, ein Ambiente, das ein Versinken in Rameaus wunderbare, hoch spannende Musik ermöglicht, Platz und Raum lässt für eigene Gedanken und doch die passenden Stimmungen zur Handlung evoziert.

Im ersten Akt sind dies die schwarze Bühne durchschneidende, bewegliche Lichtstrahlen und – kegel, welche die praktisch ausweglose Situation der gefangenen Aricie verdeutlichen. Im zweiten Akt, der in der Unterwelt spielt, erleben wir eine Art Planetensystem, Thésée, Tisiphone und Pluto tragen Kugeln aus farbigen Leuchtröhren auf den Schultern, so dass praktisch nur ihre Köpfe sichtbar sind. Von der Decke schwebt eine riesige Kugel aus geschliffenen Quadraten und Dreiecken aus Glas, welche das Licht in den Saal brechen, der Tanz im Divertissement findet in einem mit Spiegelflächen versehenen, aufgeklappten und gespaltenen Kubus statt, was wunderbare Effekte der Verdoppelung ermöglicht. Metallene Verstrebungen – erinnern an den Eiffelturm – vor einer gigantischen Spiegelwand -soll an den Spiegelsaal von Versailles angelehnt sein – zeigen das Gefangensein in der eigenen Triebwelt der Phèdre aber auch der Öffentlich-Machung ihrer Gefühle, weil die gigantische Spiegelwand dann auch den Zuschauersaal der Staatsoper spiegelt. Das ist nun nicht wirklich neu, aber in diesem Kontext stimmig.

Bereits gegen Ende des dritten Aktes – Thésée bittet seinen Vater, den Meeresgott Neptun, seinen Sohn Hippolyte zu ermorden – und vor allem dann im vierten Akt wird das Wasser das bestimmende Element der Bühne. Durch Projektionen wird die faszinierende Kraft dieses Elements versinnbildlicht, bevor dann die Nebel des Grauens Hippolyte und Aricie verschlingen. Aus diesem Nebel taucht Aricie zu Beginn des fünften Aktes langsam auf, sechs Scheinwerfer von oben lassen trianguläre Formationen entstehen, die wie kalte Bäume wirken, der Wald wird so insinuiert. Bald doch leuchten diese Bäume in den Farben des Regenbogens – ein wunderschönes Bild, man traut in der Staatsoper dem Happyend, wenn Hippolyte und Aricie von der Göttin Diana vereint – von nun an glückselig über den Wald und dessen Bewohner herrschen werden. Das ist Idylle pur.

Nur schon wegen des Lichts – neben Ólafur Elíasson arbeitete Olaf Freese an der Lichtgestaltung – lohnt sich also der Besuch der Aufführung. Aber nicht nur, denn die Musik Rameaus findet in Sir Simon Rattle am Pult des wunderbar farbenreich spielenden Freiburger Barockorchesters einen engagierten Anwalt, der ein überzeugendes Plädoyer für den noch immer hierzulande etwas stiefmütterlich behandelten französischen Barockkomponisten ablegt. Die Musik Rameaus – gespielt wird die geraffte Fassung von 1757, mit Ergänzungen aus der 1.Fassung von 1733 und der posthumen Fassung von 1767 – ist abwechslungsreich, packend, reicht von dramatischer Zuspitzung zu zauberhafter Verspieltheit, ist reichhaltig instrumentiert; herrlich der Klang der Musettes – eine Art Dudelsack – im letzten Bild. Der renommierte Klangkörper des Freiburger Barockorchesters ist dafür natürlich eine ideale Besetzung, und es war ein langgehegter Wunsch von Sir Simon, einmal dieses Orchester dirigieren zu dürfen.

Ideal ist auch die vokale Besetzung: Anna Prohaska (Aricie) ließ sich zwar sicherheitshalber vor Beginn der Vorstellung als indisponiert ansagen, doch von der Indisposition merkte man nichts. Herrlich klar, leicht und luftig klang sie, ihre Arie der Nachtigall am Ende ein Hochgenuss. Fantastisch auch ihr Geliebter Hippolyte, dem Reinoud Van Mechelen seinen Haut contre Tenor lieh, perfekte Phrasierung, wunderbar rein in der Intonation. Die ganze Palette an Ausdrucksmöglichkeiten stand Magdalena Koženás ausdrucksstarkem Mezzosopran als Phèdre zur Verfügung. Ihre Szenen gehörten neben ihrer exemplarisch sicheren musikalischen Gestaltung auch szenisch zu den eindringlichsten des Abends.

Gyula Orendt begeisterte als Thésée mit seinem kernigen Bariton, mit dem er auch seine tief verletzliche Seite zeigen konnte. Fantastisch besetzt war die Göttin Diane mit dem glockenreinen Sopran von Elsa Dreisig. Peter Rose war ein bassgewaltiger Pluto, David Oštrek überzeugte als Tisiphone mit rundem, warmem Bariton. Adriane Queiroz verlieh dem kurzen Auftritt der Amme Oenone mit ihrem eingedunkelten Timbre Gewicht. Das Trio der drei Parzen gehört musikalisch zum Gewagtesten aus Rameaus Feder, hier grandios interpretiert von Linard Vrielink, Arttu Kataja und Jan Martiník. Im Hades-Akt gesellte sich Michael Smallwood als stimmschöner Mercure dazu. In den diversen Divertissements glänzten neben dem sehr gepflegt singenden Statsopernchor Sarah Aristidou, Slávka Zámečníková und Serena Sáenz Molinero als Priesterin, Jägerin und Hirtin mit überaus einnehmenden, ja geradezu brillanten Stimmen, gleich funkelnden Diamanten.

Bleiben Inszenierung und Choreographie von Aletta Collins: Da gerät man echt in einen Zwiespalt. Neben großartigen Ideen – umgesetzt von formidablen Tänzerinnen und Tänzern – wie der eindrücklichen Choreographie im Spiegelkubus und den verschiedenen – auch gleichgeschlechtlichen – Paarfindungen im vierten Akt, ist da viel Nichtssagendes, Gleichförmiges und regelrecht Langweiliges zu sehen. Besonders banal die Reigenformationen im Schlussakt, wo man nicht weiss, ob diese esoterischen Eurythmieübungen nun wirklich ernst oder sarkastisch gemeint waren.

Doch angesichts der vielen Pluszeichen, die über dieser Produktion stehen, vergisst man diese Ausrutscher schnell wieder und genießt den überwältigenden Reichtum von Rameaus Musik und die faszinierende Installation von Ólafur Elíasson.

Kaspar Sannemann 30.11.2018

Bilder siehe unten Premierenbesprechung unten!