Berlin: „Quartett“

Würdige Saisoneröffnung zum Tag der deutschen Einheit

Immer für eine Überraschung gut ist der Vergleich des Inhalts des jeweiligen Programmbuchs mit der dazu gehörigen Vorstellung, so auch bei der Erstaufführung der deutschen Fassung von Luca Francesconis Oper Quartett, beruhend auf dem gleichnamigen Schauspiel von Heiner Müller, dem wiederum Laclos‘ Briefroman Les liaisons dangereuses, vor allem aber das Vorwort von Heinrich Mann zum Roman, zugrunde liegt.

Ursprünglich war das Libretto in englischer Sprache verfasst worden, ihre Uraufführung erlebte die Oper 2011 an der Scala, wo sie einige Jahre später auch wieder in den Spielplan aufgenommen wurde. Es folgten in schneller Reihenfolge Übernahmen dieser Produktion nach Wien, Amsterdam, Lille, Lissabon und Barcelona, ein Jahr später brachte Paris eine eigene Produktion heraus, es folgten Porto, Straßburg und Spoleto in den USA, die erste Aufführung in Deutschland bekam Dortmund zu sehen und zu hören.

Nun zurück zum Beginn: Immer noch en vogue zu sein scheint bei deutschen und anderen Intellektuellen eine wüste Kapitalismuskritik , der im Programmheft sowohl von der polnischen Regisseurin wie vom italienischen Komponisten verantwortlich gemacht wird für Klimaverderben, Gemeinsinnsvernichtung, Verdummung durch Medienkonsum und vieles mehr, wobei die Ankläger in der Eile übersehen, dass gerade in schwierigen Zeiten wie diesen der Geschmähte es möglich macht, dass ohne Rücksicht auf finanzielle Verluste ihre Werke vor einem reduzierten Publikum aufgeführt werden können. Das gebetsmühlenhafte miesepetrige Verteufeln einer Gesellschaftsordnung, in der es sich offensichtlich gut leben lässt, wirkt dann umso überflüssiger, wenn das Stück selbst absolut nichts mit dem strapazierten Thema zu tun hat. Es geht um die Lust zweier dank ihres Standes zum Nichtstun verdammter Aristokraten kurz vor der Französischen Revolution daran, zu verführen und damit ins Verderben zu stürzen. Zwar hat Heiner Müller als Zeitangabe auch „nach dem dritten Weltkrieg“ hinzugefügt, aber dessen bisher immer wieder verhinderter Ausbruch ist eher „kapitalistischen“ als sonstigen Staaten zu verdanken.

Bühnenbildnerin Barbara Hanicka hatte bei der Gestaltung der Szene eher den dritten Weltkrieg als die Französische Revolution im Sinn, zunächst kehrt eine etwas ramponiert aussehende Erdkugel dem Publikum eine Seite zu, sie dreht sich mit Beginn der Musik und gibt den Blick frei auf eine Art Bunker, von dessen Decke es tropft und in dessen Boden sich die beiden Darsteller spiegeln. Im Verlauf des 90minütigen Abends erscheinen auf der Rückwand Videos von Ruinen oder Straßenaufnahmen mit Autos und anderem Gefährt. Francesconi hatte zunächst das Personal noch weiter auf eine Person reduzieren wollen, nun aber gibt es den Sopran für die Marquise de Merteuril und den Bariton für den Vicomte de Valmont, dazu in der einfühlsamen Berliner Inszenierung von Barbara Wysocka noch eine Tänzerin, Francesca Ciaffoni, und eine Statistin, ein ganz junges Mädchen, Ségolène Bresser, das die verführte Klosterschülerin darstellen soll. Diese Personen legen, wohl in Anspielung auf die Pandemie, ab und zu Masken an, vollziehen rätselhafte Handlungen wie das Ausziehen von nacheinander ca. zwölf Slips oder das Hantieren mit einem Rasiermesser. Schwarze Todesvögel senken sich zur Schlussszene, als Valmont den Tod durch Vergiften stirbt, herab, einen drückt Merteuril als Verursacherin des Ablebens an die Brust. Das sind teilweise sehr schöne Bilder, die in einem scharfen Kontrast zur rüden Sprache, nicht aber zur Musik stehen.

Die wird von zwei unterschiedlichen Orchestern, davon nur eines, das kleinere im Orchestergraben (günstig in Coronazeiten) platziert, für das zweite, vom Komponisten nach Out verordnet, ist eigentlich der Probensaal vorgesehen, nun konnte man sich der Aufnahme aus der Scala bedienen und damit unnötige enge Kontakte vermeiden. Parallel dazu gibt es auch zwei Ebenen im Stück mit der realen und der Traumwelt, so wie Sopran und Bariton nicht nur die tatsächlich Anwesenden, sondern auch ihre Opfer spielen, ja sogar ihre Rollen tauschen, wenn in einer Szene Merteuril in Männerkleidung Valmont ist.

Das Stück stellt allerhöchste Anforderungen an den Sopran ( ursprünglich war die Partie für einen Mezzo komponiert), was den Tonumfang mit Irrsinnshöhen, den Umfang der Partie und den notwendigen darstellerischen Einsatz betrifft.

Mojca Erdmann meisterte ihre Aufgabe in jeder Hinsicht auf bewundernswerte Weise, ohne jede Ermüdungserscheinung. Ihr zur Seite stand

Thomas Oliemans mit markantem, strapazierfähigem Bariton und ebenfalls überzeugend in der Interpretation des Zynikers, der schließlich wenigstens mit Anstand zu sterben weiß. Daniel Barenboim gelingt auf perfekte Weise die Koordination der unterschiedlichen musikalischen Elemente einschließlich der IRCAM aus Paris zu verdankenden zu einem faszinierenden Klangteppich.

Das Hygienekonzept der Staatsoper ist perfekt, so dass niemand Angst davor zu haben braucht, sich dieses musikalische Erlebnis trotz Coronas zu gönnen.

Fotos: Monika Rittershaus

03.10.2020 Ingrid Wanja