Berlin: „Ti Vedo, Ti Sento, Mi Perdo“

Premiere am 7.7.2018

Zum letzte Mal Infektion! ?

An Warten auf Godot und Capriccio denkt man oft bei Salvatore Sciarrino s neuer Oper mit dem poetischen Titel Ti vedo, ti sento, mi perdo (Ich sehe dich, ich fühle dich, ich bin verloren), aber der Untertitel beweist, dass der Sizilianer seinem Themenkreis Mythos und Musikgeschichte treu geblieben ist: In Attesa di Stradella (In Erwartung von Stradella. Der Barockkomponist, der zu seiner Zeit wegen seiner Musik so berühmt wie wegen seiner Liebesabenteuer berüchtigt war und der schließlich Opfer eines nie aufgeklärten Meuchelmords wurde, erlangte nach schnellem Vergessenwordensein noch einmal Nachruhm durch Flotows Oper, die seinen Namen trägt. In zwei Akten und knapp zwei Stunden erlebt der Zuschauer die Proben zu einem Stradella-Konzert in einem römischen Adelspalast. Eine Sängerin, ein Musiker und ein Literat singen sich schon einmal ein, bzw. philosophieren über die Musik im Allgemeinen und Stradella im Besonderen, warten auf die Ankunft des Maestro und eine versprochene neue Kantate.

Die Dienerschaft mokiert sich über die Herrschaften und treibt allerlei Allotria. Nach der Pause scheinen alle beträchtlich gealtert zu sein, doch man probt immer noch, bis ein junger Sänger erscheint und vom Tod des Komponisten berichtet, der Sängerin das Fragment eines Musikstücks überlässt. Ein Streichquartett in historischen Kostümen sitzt auf der Seitenrampe, das eigentliche Orchester, da wo ein solches im Opernhaus hingehört.

Ex- Intendant Jürgen Flimm, der das Neue-Musik-Festival Infektion! ins Leben rief, das offensichtlich in diesem Jahr zum letzten Mal stattfindet, ist eng befreundet mit dem Komponisten, von dem bereits vor der Stradella-Oper fünf andere wie Macbeth und Lohengrin vor allem in der Werkstatt des Schillertheaters oder auch auf der Baustelle der Staatsoper aufgeführt wurden. Typisch für die Werke Sciarrinos ist es, dass der Komponist seiner minimalistischen Musik Zitate aus Werken der Musikliteratur an die Seite stellt, ein musikalisches Gewebe aus eigener und zum Thema passender Musik flicht, wobei bei seiner neuen, vor einigen Monaten an der Scala uraufgeführten Oper die des italienischen Komponisten, in die eigene Klangsprache integriert, die gegebene ist.

Jürgen Flimm zieht als Regisseur des Abends noch einmal alle Register seiner Kunst, treibt einen ungeheuren szenischen Aufwand, was sehr unterhaltsam, aber manchmal das musikalisch zarte Werk fast erschlagend wirkt. Zwar ist die Bühne schlicht gehalten, ein riesiger karg ausgestatteter Saal mit Ansätzen einer Bühne (George Tsypin), einiges, sich im Raum verlierendes Mobiliar, im Hintergrund ein Gemälde, ein Schiff im Sturm zeigend, das später durch das einer Landschaft ersetzt wird. Üppig wird es beim Personal, das nicht nur aus dem vom Libretto vorgesehenen besteht, sondern aus Scharen von Bühnenarbeitern, Ballettratten, Tänzerinnen, ja einem Wotan und Butterfly nebst Suzuki, die im Reigen mitmarschieren. Die sind samt und sonders in ständiger Bewegung, das Geschehen unterstreichend, konterkarierend oder einfach sich selbst genügend, Konfetti werfend, während es von oben Flaumfedern regnet. Höchst phantasievoll in Farben schwelgend ist die Lichtregie von Olaf Freese. Eine wahre Pracht sind die Kostüme von Ursula Kudrna, die in fröhlicher Unbekümmertheit den Zeitraum vom Barock bis zum Zweiten Kaiserreich umfassen, aber auch Gegenwartskleidung taucht ab und zu auf, vor allem beim musiklosen Vorspiel.

Laura Aikin, die gestandene Sängerin, die immer dann eingesetzt wird, wenn es besondere Schwierigkeiten zu meistern gilt, widmet sich mit nicht mehr ganz frischer, aber bewundernswert intonationssicherer, Intervallsprünge schwierigster Art beherrschender Gesangskunst der Rolle der Sängerin. Charles Workman gibt mit eindringlichem Charaktertenor den Musiker, Otto Katzameier ist mit markantem Bassbariton der Literat. De jungen Stimmen von Sónia Grané und Lena Haselmann tun den beiden Mägden gut, Thomas Lichtenecker verleiht mit seinem Countertenor dem Stück auch akustisches Barockempfinden.

Christian Oldenburg und Emanuele Cordaro sind die tieferstimmigen umtriebigen Diener. David Ostrek setzt eine schön timbrierte Stimme für die traurige Nachricht vom Ableben des Komponisten ein. Wie bereits an der Scala führt Maxime Pascal beide Orchester sicher durch den Abend und erweist sich auch als hilfreich für die Sänger. Mehr als die Verweise auf Orpheus und Odysseus und die Sirenen bleiben die feinen Texte wie „Dormite, occhi, dormite“ oder „Ch’io nasconda il mio fuoco“ und die von Sciarrino überarbeitete Stradella-Musik im dankbaren Gedächtnis.

Lobend zu erwähnen ist das vorzügliche Programmbuch; im Apollo-Saal kann in der Pause eine Ausstellung über Salvatore Sciarrino besichtigt werden.

Fotos Clärchen und Matthias Baus

8.7.2018 Ingrid Wanja