Braunschweig: „Die Passagierin“

Besuchte Aufführung: 14.5.2019 (Premiere: 6.4.2019)

Verzahnung von Ebenen

Dieses Jahr feiert die Musikwelt den hundertsten Geburtstag von Mieczyslaw Weinberg (1919-1996). Anlass genug für das Staatstheater Braunschweig, mit der Passagierin, für die Alexander Medwedew das Libretto schrieb, das wohl berühmteste Werk des jüdisch-polnischen Komponisten auf den Spielplan zu setzen. Damit ist dem Opernhaus ein ganz großer Coup gelungen, für dem ihm höchste Anerkennung gebührt. Das war ein Opernabend, der sich tief in das Gedächtnis einbrannte und den man nicht so schnell wieder vergisst. Diese phantastische Aufführung, die sich in jeder Beziehung auf ganz hohem Niveau bewegte, wird sicher in die Annalen des Braunschweiger Staatstheaters eingehen. Die Wirkung war enorm. Bemerkenswert ist, was die Vorstellung in dem Besucher auslöste. An diesem Abend verließ man das Opernhaus nicht wie bei sonstigen Aufführungen, sondern tief betroffen, beklommen und sogar ein wenig erschüttert. Dieser Eindruck lässt sich mit Blick auf die Thematik durchaus nachvollziehen.

Dorothea Spilger (Lisa)

Weinberg, der bereits in jungen Jahren vor der in sein Heimatland Polen einmarschierenden Armee der Nazis in die UdSSR fliehen musste und die restliche Zeit seines Lebens dort im Exil verbrachte, greift in seiner Passagierin das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Der Oper zugrunde liegt der gleichnamige Roman der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz, in dem diese ihre Erlebnisse in der Hölle von Auschwitz mit ungeheurer Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch die Verdrängungsmentalität der Nachkriegszeit eingehend behandelt. Weinberg, der einen Großteil seiner Familie in den Gaskammern der Nazis verlor, und Medwedew haben die Grundstruktur des Buches in ihrem Werk beibehalten und nur einige wenige Änderungen vorgenommen, um einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.

Ekaterina Kudryavtseva (Marta), Dorothea Spilger (Lisa)

Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und ihr sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – dieser ist in der Oper im Gegensatz zum Buch nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, sie aber am Ende doch in den Todesblock schickt. Wie Marta dem Tod letztlich entrinnen konnte, ist ein großes Geheimnis, das ungeklärt bleibt. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem entsetzten Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Schiff und in Auschwitz ab.

Matthias Stier (Walter), Dorothea Spilger (Lisa)

Es ist eine erschütternde Geschichte, die sich vor den Augen des Publikums abspielt und bei der die Choristen gleich einem antiken griechischen Chor nicht am Geschehen selbst partizipieren, sondern mit weiser Allwissenheit das Augenmerk des Auditoriums auf den vom Schicksal bestimmten Kern des Dramas lenken. Mit dieser Oper hält Weinberg dem Publikum gleichsam den Spiegel vor. Seine Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln der Oper. Nachdrücklich rühren sowohl der Komponist als auch die Autorin der Romanvorlage an der nie heilenden geistigen Wunde der Deutschen, die unter dem NS-Regime anderen schweres Leid zugefügt haben, und gemahnen Deutschland an seine Verantwortung vor der Geschichte. Diese Botschaft ist an diesem denkwürdigen Abend bei den Zuschauern, unter denen sich auch viele Schüler(!) befanden, voll und ganz angekommen. Der Schlussapplaus, in den sich viele Bravos mischten, fiel ausgesprochen herzlich aus.

Ekaterina Kudryavtseva (Marta), Vincenzo Neri (Tadeusz)

Das war aber auch kein Wunder, denn das, was heuer über die Bühne des Staatstheaters Braunschweig ging, war in großem Maße dazu geeignet, Begeisterung zu erregen. Schon die Inszenierung von Dirk Schmeding in dem Bühnenbild von Ralf Käselau und den Kostümen von Julia Rösler vermochte zu überzeugen. Dem Regieteam geht es nicht darum, ein möglichst reales Abbild von Auschwitz zu zeigen. Vielmehr thematisiert es unsere heutige Einstellung zu diesem überaus heiklen Kontext. Auschwitz auf der Bühne ist schon lange kein Tabuthema mehr. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst der Passagierin. Schmeding verzichtet auf jegliche Aufzeigung von blanker Gewalt und gibt dem Ganzen mehr einen reflektierenden Anstrich. Jeder Form von Naturalismus erteilt er eine klare Absage und vermeidet es dabei gekonnt, in irgendwelche Formen von Rührseligkeit oder Sentimentalität abzugleiten. Ein äußerer Wechsel zwischen dem Ozeandampfer und Auschwitz findet in dieser Produktion nicht statt. Vielmehr verzahnen sich beide Ebenen in einem Einheitsbühnenbild miteinander. Das Ganze spielt sich auf dem Schiff ab, wobei die Auschwitz-Szenen geschickt in diesen äußeren Rahmen integriert werden. Offenkundig wird dabei, dass alle Passagiere Lasten der Vergangenheit mit sich herumschleppen, die irgendwann einmal radikal an die Oberfläche kommen.

Ekaterina Kudryavtseva (Marta), Dorothea Spilger (Lisa), Matthias Stier (Walter)

Dabei ist der Dampfer aber dennoch äußeren Veränderungen unterworfen. Wenn sich die erste Auschwitz-Szene ankündigt, beginnen die Lagerinsassinnen, das leicht ansteigende Sonnendeck in seine Bestandteile zu zerlegen. Sie entfernen einzelne Holzlatten und kreieren emsig eine neue Spielfläche, die ein marodes Überbleibsel der alten ist. Bereits vorher hat sich eine mitreisende Mutter als Oberaufseherin entpuppt. Auch kostümmäßig wird der Wechsel der Ebenen ansprechend gelöst. Marta zieht das Kleid, das sie auf dem Schiff trägt, aus und verbringt die Auschwitz- Szenen in einem weißen Unterkleid. Dann hilft sie Lisa, sich ihres schicken Kleides zu entledigen. Behende legt die Aufseherin eine SS-Uniform an, die ihr die kleine Tochter der Oberaufseherin in einem Paket gebracht hat. Die Zeichnung der Lisa ist Schmeding besonders gut gelungen. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass wir es hier mit einer durch und durch bösen Person zu tun haben – sie ist es, die im Konzertbild wütend Tadeusz’ Geige zertritt -, die auf der anderen Seite aber auch sehr erotisch anmutet. So verbringt sie im zweiten Akt in ihrer Szene mit Walter lange Zeit in Unterwäsche und geniert sich dabei auch vor dem dazukommenden Steward nicht. Wenn sie sich einmal innig an Marta schmiegt, wird nur zu deutlich, dass sie die Häftlingsfrau begehrt. Lisas Ehemann bekommt immer mehr von ihren schlimmen Taten mit. Oft geht er an Stellen über die Bühne, an denen Weinberg und Medwedew eigentlich gar keinen Auftritt für ihn vorgesehen haben. Das Verständnis des Regisseurs für Tschechow’sche Elemente wird auf diese Weise offenkundig. Ein weiterer Kniff der Regie ist eine teilweise Pausenbespielung der Bühne nach dem ersten Akt. Noch während die Besucher den Zuschauerraum verlassen, hält sich Walter entsetzt ein Taschentuch vor Mund und Nase, während Lisa auf erhöhter Warte stehend um ihre Ehe fürchtet. Eine gute Idee war es auch, die SS-Männer mit Gasmasken auftreten zu lassen. Da wurde ganz klar, dass sie unmittelbar vorher Juden vergast hatten. Im zweiten Akt waren das Martas Freundinnen. Insgesamt sind Schmeding Bilder von ungemeiner Eindringlichkeit gelungen. Und in Sachen Personenregie erwies er sich als wahrer Meister. Die zwischenmenschlichen Beziehungen wurden von ihm grandios ausgelotet. Langweilig wurde es wahrlich an keiner Stelle. Das Ganze atmete eine perfekte innere Geschlossenheit und enorme Spannung, die einen ganz in seinen Bann zog. Sicher handelt es sich hier um eine der besten Deutungen dieses anspruchsvollen Werkes, wofür dem Regieteam großes Lob auszusprechen ist. Das war atemberaubendes Musiktheater!

Ivi Karnezi (Katja), Dorothea Spilger (Lisa), Ekaterina Kudryavtseva (Marta)

Geradezu atemberaubend war auch Weinbergs Musik. Der musikalische Reichtum des Werkes ist enorm. Die Klangsprache erinnert stark an diejenige von Weinbergs Freund und Mentor Schostakowitsch. Das Stück beruht auf einer erweiterten Tonalität und weist zudem Elemente der Zwölftonmusik auf. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön. In diesem Zusammenhang seien nur die Lieder der Auschwitz-Insassinnen, der Choral und das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt genannt. Und für die vom Komponisten bemühte Leitmotivtechnik stand augenscheinlich Richard Wagner Pate. Diese wirkt indes nicht direkt, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Dennoch bleiben viele Themen nachhaltig in Erinnerung. Erwähnenswert sind dabei insbesondere die musikalischen Zitate aus der Musikgeschichte. So erklingt beispielsweise zu Beginn des dritten Bildes des ersten Aktes das Schicksalsmotiv aus Beethovens fünfter Symphonie in c-moll. Und als Höhepunkt der Oper am Ende des zweiten Aktes spielt Tadeusz nicht etwa den banalen Lieblingswalzer des Kommandanten, sondern bringt den Nazis die Chaconne aus der Partita Nr.2 d-moll für Solo-Violine von Johann Sebastian Bach zu Gehör. Dieses Zitat aus einem der berühmtesten Werke der menschlichen Kultur, das Tadeusz hier im Angesicht des Todes so mutig vor den Ohren der deutschen SS-Schergen ausbreitet, stellt die geistige Essenz der Oper dar. Das Bach’sche Erbe als leidenschaftliches Plädoyer für Humanität: die große Erhabenheit dieses Gipfelpunktes der Passagierin lässt sich eigentlich gar nicht in Worte fassen. Der Eindruck war gewaltig! Weinbergs grandiose Partitur war bei Christopher Lichtenstein und dem versiert aufspielenden Staatsorchester Braunschweig in besten Händen. Dirigent und Musiker zauberten in gemächlichen Tempi einen sehr gefühlvollen, weichen Klangteppich, der sich zudem durch große Spannungsbögen auszeichnete. Das waren sehr ansprechende Leistungen seitens der Musiker.

Dorothea Spilger (Lisa), Ekaterina Kudryavtseva (Marta), Vincenzo Neri (Tadeusz)

Und über was für ausgezeichnete Sänger verfügt das Staatstheater Braunschweig. Da blieben praktisch keine Wünsche offen. Zu Beginn ist hier Dorothea Spilger zu nennen, die ab nächster Saison fest zum Braunschweiger Sängerstamm gehören wird und hier als Lisa beredtes Zeugnis von ihrem großen Können ablegte. Sie verfügt über einen in jeder Lage bestens fokussierten, voll tönenden und nuancenreichen Mezzosopran, mit der sie jede Facette ihrer Rolle gekonnt auslotete. Auch darstellerisch vermochte sie mit intensivem Spiel ungemein gut zu gefallen. Es war sehr mutig von ihr, manchmal nur mit Unterwäsche bekleidet zu singen. Darüber hinaus sieht die Sängerin blendend aus, wodurch die große Fallhöhe der Figur der Lisa offenkundig wurde. Sehr für sich einzunehmen vermochte auch Ekaterina Kudryavtseva, die mit ebenfalls bestens sitzendem, warmem und gefühlvollem Sopran die Marta sang, die sie auch überzeugend spielte. Einen hellen, kraftvollen Tenor brachte Matthias Stier für den Walter mit, dessen große Angst vor einem Karriereschaden er trefflich ausspielte. Ein voll und rund, dabei sehr sonor singender Tadeusz war Vincenzo Neri. Durchweg gute Leistungen erbrachten Ivi Karnezi (Katja), Milda Tubelyté (Krystina), Alexandra von Roepke (Vlasta), Friederike Harmsen (Hannah), Anat Edri (Yvette) und Zhenyi Hou (Bronka). Hier sind in erster Linie die Damen Karnezi und Hou lobend hervorzuheben, deren vokale Leistungen sehr eindringlich waren. Gut besetzt war das aus Jisang Ryu, Enrico Wenzel und Kwonsoo Jeon bestehende, tiefgründig intonierende Trio der SS-Männer. Einer von ihnen gab auch den älteren Passagier. Etwas introvertiert klang Sabine Brandt s Alte. Die Schauspieler Marina Funke (Kapo), Kathrin Reinhardt (Oberaufseherin) und Raphael Traub (Steward, Lagerkommandant) rundeten das homogene Ensemble ab. Tadellos präsentierte sich der von Georg Menskes und Johanna Motter bestens einstudierte Chor des Staatstheaters Braunschweig.

Fazit: Eine ungemein unter die Haut gehende, stark berührende Aufführung, deren Besuch jedem Opernfreund dringendst empfohlen wird! Ein herzliches Dankeschön an die Braunschweiger Theaterleitung für diese absolut denkwürdige, geradezu preisverdächtige Produktion. Die Passagierin sollte auf dem Spielplan sämtlicher Opernhäuser stehen!

Ludwig Steinbach, 16.5.2019

Die Bilder stammen von Thomas M. Jauk