Braunschweig: „Europeras 1 & 2“

Premiere am 25. November 2017

Tolles Spektakel

Das ist ganz schön mutig, was die neue Theaterleitung und insbesondere die neue Operndirektorin Isabel Ostermann dem Braunschweiger Theater und seinem Publikum zumutet: „200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück.“ So kündigte der Meister der musikalischen Avantgarde, der amerikanische Komponist John Cage (1912-1992) sein vor 30 Jahren in Frankfurt a.M. uraufgeführtes Werk „Europeras 1 & 2“ an. In diesem musikalischen Experiment ist nun wirklich alles anders, als man es von einer Oper im herkömmlichen Sinn erwartet. Mit Hilfe der buddhistischen I-Ging-Philosophie werden alle Elemente, die man mit einer Opernaufführung verbindet, neu angeordnet: Bühnenbild, Licht, Kostüme, Requisiten und sogar die Sänger mit berühmten Arien und Duetten des Opernrepertoires sowie die Instrumentalisten des Orchesters folgen einem vor jeder Aufführung zufällig berechneten Parcours. So haben sich die Mitglieder des Opernensembles aus ihrem jeweiligen Repertoire einen Pool von 12 Arien ausgesucht, aus dem dann am Tag vor der Vorstellung zu einer zufällig vorherbestimmten Zeit abgerufen wird. Ihnen wurden außerdem „Aktionen“ zugeteilt, die nicht den Arien zugeordnet werden, sondern genauso der zufälligen Auswahl unterliegen. Ähnlich ist es bei den 25 Mitgliedern des Orchesters, denen Cage bestimmte Musikschnipsel aus 64 Opern von Gluck bis Puccini zugedacht hat. Gesteuert wird der Abend dabei nicht durch einen Dirigenten, sondern durch eine große Digital-Uhr, die über allem auf der Bühne schwebt und auf der 90, bzw. 45 Minuten ablaufen.

In der Braunschweiger Inszenierung, die dritte nach der Uraufführung überhaupt, (Regie: Isabel Ostermann ) gibt es 64 durchnummerierte Felder wie auf einem Schachbrett; wer wo, wann und wie lange auf einem der bis zum vorderen Bühnenrand reichenden Felder steht, ist ebenfalls der Bestimmung durch den Computer vorbehalten. Die Bühne wurde mit Fotos von typischen Bühnenbildern aus bekannten Opern, auch aus Braunschweiger Inszenierungen, und Partitur-Titelblättern bestückt. Den Bühnentechnikern, die sonst für das Publikum unsichtbar wirken, konnte man nun zusehen, wie sie u.a. große Komponisten-Porträts, Möbelstücke, eine Giraffe und einen großen Straußenvogel auf der Bühne hin und her schoben. Den Ensemble-Mitgliedern wurden entsprechend ihrem Stimmfach farbenfrohe, liebevoll gestaltete typische Kostüme und Requisiten zugeteilt (Ausstattung:

Corinna Gassauer

Das Ganze begann mit John Cages wohl berühmtesten „Musikstück“ für Instrumentalisten: „4:33“. Der musikalische Leiter der Produktion Christopher Lichtenstein im Frack saß am Flügel und tat – nichts!

Und dann ging das Spektakel los. Hier nenne ich nun beispielhaft, was die Sängerinnen und Sänger präsentierten: So trat die Königin der Nacht aus der „Zauberflöte“ (Jelena Banković) mit Siegfrieds Schwert Notung auf und sang über den Abend verteilt Teile des Musette-Walzers aus „La Bohème“, Susannas „Rosenarie“, Marguerites „Juwelenarie“ und gemeinsam mit Don Giovanni (Vincenzo Neri) „La ci darem la mano“, der auch Wolframs „Abendstern“ ansang und sich als Graf Almaviva über die gegen ihn gesponnene Intrige in „Figaros Hochzeit“ empörte. Rigoletto (Eugene Villanueva) erschien mit einer mechanischen Schreibmaschine und tippte wie wild darauf herum; dabei sang auch er Ausschnitte aus der genannten Almaviva-Arie; später stand er in einer fahrbaren venezianischen Gondel und hetzte sich durch Giovannis „Champagner-Arie“. Auch Madame Butterfly (Ivi Karnezi) war vertreten; sie trug einen geschmackvollen Kimono, fuhr Rad und sang Arien-Bruchstücke so unterschiedlicher Partien wie der Gräfin Almaviva oder der Elisabetta („Don Carlo“). Natürlich war Papageno (Maximilian Krummen) ebenfalls dabei; er pustete Seifenblasen in die Luft, tanzte mit einem Porträt der neuen Intendantin und präsentierte Ausschnitte aus seinen Arien, aus „Heiterkeit und Fröhlichkeit“ aus Lortzings „Wildschütz“ sowie aus Harlekins Lied aus „Ariadne auf Naxos“. Gern sah man Carolin Löffler als rassige Carmen, die u.a. mit Prinz Orlofskys „Chacun a son gout“ zu hören war. Dass so allerlei Unsinniges geschah, dass Carmen z.B. eine Zeitlang einen Zebra-Kopf trug, sich der Vorhang einige Male für kurze Augenblicke schloss, dass Teile der Begrüßungsansage vom sommerlichen Event auf dem Burgplatz „Hairspray“ eingespielt wurden, sei am Rande auch erwähnt.

Mit Speer und Augenklappe erlebte man Wotan (Ernesto Morillo), der im Müllcontainer sitzend den Abschied von Brünnhilde dröhnte, aber auch außer Roccos „Gold-Arie“ am Bühnenrand die „heiligen Hallen“ Sarastros beschwor. Unverkennbar trat der Rosenkavalier (Jelena Kordić) in seinem klassischen Rokoko-Anzug auf; er sang Carmen und Cherubino, auch im Müllcontainer und klapperte später mit Kastagnetten. Entsprechend dunkler geschminkt sah man als Otello Matthias Stier, der neben anderem aus Taminos „Bildnis-Arie“ sang. Mit langen blonden Locken erschien Mélisande (Milda Tubelytė), die Fahrräder zu reparieren versuchte und u.a. Cherubino zu Gehör brachte. Schließlich sind noch Nana Dzidziguri (u.a. aus Azucenas „Stride la vampa“) und Sabine Brandt (u.a. aus Briefduett „Figaros Hochzeit“) zu nennen.

Zu den spielfreudigen Akteuren gehörten auch drei Tänzer mit akrobatischen Einlagen sowie drei Schauspieler, die allerlei ebenfalls unsinnig erscheinende Szenen spielten und dabei Worte von Bassa Selim und sogar Elsas Traum aus „Lohengrin“ zitierten. Ab und zu gab es eine wie stets im Zufallsprinzip erstellte, einige Sekunden dauernde Toncollage aus Schnipseln der europäischen Operngeschichte, die alles „wie ein vorbeifahrender Truck“ (Cage) akustisch überlagerte.

Bei der Einstudierung hatten die Regisseurin und der musikalische Leiter lediglich arrangierende Funktionen, die offensichtlich sehr inspirierend auf die Akteure gewirkt hatten. Denn die verschiedenen, dem üblichen Operngestus geradezu widersprechenden Aktionen mussten ja singend bewältigt werden. Und das machte allen sichtlich Spaß, wenn es auch die Sänger sehr erschwerte, ihre jeweilige eigene Tonart gegen die Instrumentalisten zu halten, die ohne zu unterstützen entsprechend dem Zufallsprinzip gegenläufige Passagen aus anderen Opern zu spielen hatten.

Was wollte Cage mit seinem Werk? Sicher spielt er genial mit den überkommenen Opernklischees; ob er damit aber wirklich die Oper im Ganzen anprangern wollte, bezweifle ich. Ich halte es nach den tollen Leistungen aller Mitwirkenden am Premierenabend mit der Intendantin Dagmar Schlingmann, die während der Premierenfeier Cages „Europeras“ als „Liebeserklärung an die Oper“ bezeichnete. Diejenigen aus dem Publikum im spärlich besetzten Großen Haus, die bis zum Schluss durchgehalten hatten, bejubelten zu Recht alle Mitwirkenden mit begeistertem, lang anhaltendem Beifall.

Fotos © Thomas M. Jauk

Gerhard Eckels 26. November 2017

Weitere Vorstellungen: 29.11.+8.,29.12.2017+20.1.2018