Braunschweig: „Götterdämmerung“, Richard Wagner

Mit der Premiere von „Götterdämmerung“ stand nun das Finale eines wohl einzigartigen, sehr ambitionierten Projekts an, das unter dem Titel „Ausweitung des Ringgebiets“ die zu Ende gehende Spielzeit beherrscht hat. Es ist eine alle Sparten des Staatstheaters umfassende Neuinterpretation von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, die jetzt im Juni zweimal auch zyklisch zu erleben ist. Für Nicht-Braunschweiger sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der Titel eine Anspielung auf die Braunschweiger Stadtteile Östliches und Westliches Ringgebiet ist, die ihre Namen in den 1880er Jahren erhielten, als begonnen wurde, eine Ringstraße um den historischen Stadtkern zu bauen. Zunächst ein kleiner Rückblick auf die vorangehenden „Ring“-Opern: Im „Rheingold“ wird die Original-Partitur dreimal von Brünnhilde und Hagen unterbrochen, die Texte des Dramatikers Thomas Köck zum Wagner-Mythos sprechen. „Die Walküre“ heißt hier „Die Walküren“ und ist ein das Original heftig auf die Schippe nehmendes Stück mit Musik für das Schauspiel-Ensemble von Caren Erdmuth Jeß, in dem es sogar eine Reihe von erkennbaren musikalischen Walküren-Zitaten gibt (Komposition von Alexandra Holtsch). Schließlich ist „Siegfried“ für das Tanztheater konzipiert und heißt auch deshalb „Siegfried – eine Bewegung“; in der Komposition von Steffen Schleiermacher sind Wagner-Zitate enthalten, die infolge starker Verfremdung nur schwer erkennbar sind. In der „Götterdämmerung“ arbeiten nun alle drei Sparten – Musiktheater, Schauspiel und Tanztheater – zusammen; gleich drei Regisseurinnen und ein Choreograf leiten das Ganze im Zusammenwirken mit dem Braunschweiger Generalmusikdirektor. Wie es in den Vorankündigungen des Staatstheaters heißt, ist „im Regiekollektiv jede und jeder einzelne für verschiedene Stränge der Handlung verantwortlich. Die Einteilung basiert dabei auf Dramaturgie und Erzählebenen des Werkes an sich. Da ein komplexes Drama wie dieses zugleich in den Szenen und Instrumentalpassagen eng verwoben ist, arbeiten sie darüber hinaus in einzelnen Sequenzen kollektiv.“

© Björn Hickmann / Tilmann Unger und Allison Oakes

Für jedes Opernhaus ist die „Götterdämmerung“ eine gewaltige Herausforderung; wenn dann noch wie in Braunschweig über das Musiktheater hinaus weitere Sparten einbezogen werden, sind die Anforderungen an alle enorm. Diese hat das Staatstheater mit der einhellig umjubelten Premiere auf eindrucksvolle Weise erfüllt. Die Einbeziehung des Tanztheaters brachte überraschende und die komplizierten Beziehungen der handelnden Personen verdeutlichende Bilder. Das Regieteam mit Beatrice Müller, Isabel Ostermann und Generalintendantin Dagmar Schlingmann hatte gemeinsam mit dem Braunschweiger Ballettchef Gregor Zöllig das Tanzensemble nicht durchgängig, sondern bei einzelnen Szenen eingesetzt. So wurde die sonst oft dröge Nornenszene richtig lebhaft, indem die Tänzerinnen und Tänzer zeitweise das von den Nornen (jeweils stimmkräftig Marlene Lichtenberg, Solgerd Isalv und Ekaterina Kudryavtseva) beschworene Schicksalsseil bildeten oder deren Erzählungen tänzerisch ausdeuteten. Hier wirkte es ausgesprochen positiv, dass es deutsche Übertitel gab, weil die Verständlichkeit bei den hohen Stimmen doch zeitweise zu wünschen übrig ließ. Auch gefiel die Idee, Waltraute (mit wunderbar ausgeglichener Stimmführung Marlene Lichtenberg) gemeinsam mit den weiteren sieben Walküren auftreten zu lassen, sinnfällig mit angedeuteten Schilden kostümiert (Julia Burkhardt). Das Gespräch Alberich (mit charakteristischem Bariton Michael Mrosek) mit Hagen geriet durch das jetzt dunkel gekleidete Tanzensemble geradezu alptraumartig.

© Björn Hickmann  /  Michael Mrosek,Franz Hawlata,Tanzensemble

Anders als im „Rheingold“ wurde der musikalische Ablauf in der „Götterdämmerung“ nicht unterbrochen, um dem einzigen Schauspieler in dieser Produktion Mattias Schamberger Gelegenheit zum Deklamieren irgendwelcher Texte zu geben. Stattdessen hatte er als Friedrich Nietzsche auf der meist kargen Bühne herumzuwuseln, sich Notizen zu machen und auf die beweglichen Wände Schlagworte wie WILLE, WAHN oder WEHE sowie Texte zu schreiben, eine überflüssige Überfrachtung des Geschehens. Die Bühne kam mit wenigem Mobiliar aus; es gab die aus dem „Rheingold“ bekannten Vitrinen, die wie im Museum Dinge der Handlung wie Freias Äpfel, ein Schaukelpferd als Grane oder ein Schwert in einem Baumstamm enthielten. In einer solchen Vitrine stand auch Brünnhilde wie ein Beutestück, das Gunther mitbrachte (Bühne: Hank Irwin Kittel, Sabine Mader und Stephan von Wedel). Besonders anrührend gelang der Schluss: Nachdem Brünnhilde den schicksalsträchtigen Ring den erneut auftretenden Rheintöchtern übergeben hatte, schrieben die Tänzerinnen und Tänzer sowie einzelne Chormitglieder in Alltagskleidung an die grauen Wände in vielen Sprachen Worte wie „Freiheit“, „Gemeinschaft“, „hope“ usw., und füllten damit das die Oper beschließende hoffnungsvolle Liebesmotiv sinnhaft aus.

Es gab allerdings auch einige Albernheiten wie das Zusammenschrauben des Speers von Hagen, das bis in kleine Einzelheiten ausgespielte Frühstück von Brünnhilde und Siegfried oder die billige Imbiss-Bude und eine Luxus-Limousine, was wohl beides auf den Reichtum der Gibichungen hinweisen sollte.

© Björn Hickmann  /  Allison Oakes,Christian Miedl,Chor

Die musikalische Seite hatte ganz hohes Niveau, was zunächst dem in allen Gruppen ausgezeichneten Staatsorchester zu verdanken ist, das um etliche weitere Instrumentalisten ergänzt wurde, um der Originalbesetzung Richard Wagners wenigstens etwas näher zu kommen. Unter der umsichtigen, wie immer auch präzisen Gesamtleitung von Srba Dinić gelangen die orchestralen Zwischenspiele wie Siegfrieds Rheinfahrt oder der überhaupt nicht pompöse, sondern eindringliche Trauermarsch aufs Beste. Bei der kargen Bühnenumgebung braucht es eine kluge Personenführung, die hier durchgehend plausibel war, wenn auch ein wenig zu oft das Rampensingen als Stilmittel eingesetzt wurde, was zugleich die Fixierung auf den Dirigenten erleichterte. Aber es braucht natürlich auch Sängerdarsteller von Format – und die standen zur Verfügung: Da ist zuerst Allison Oakes zu nennen, die sich in letzter Zeit kontinuierlich das hochdramatische Fach erobert hat. Die britische Sängerin überzeugte in allen Belangen, indem sie die betrogene Frau glaubwürdig darzustellen wusste und mit ihrem strahlkräftigen, höhensicheren Sopran imponierte. Ein unbekümmerter Siegfried war Tilmann Unger, dessen frischer, teilweise baritonal timbrierter Tenor vor allem in den lyrischen Passagen – wie am Schluss in seiner Erzählung und bei dem Gruß an Brünnhilde – ausnehmend gut gefiel. Ein richtig böser, hinterhältiger Hagen war Franz Hawlata,der mit differenzierender Führung seines mächtigen Basses erfolgreich war. Christian Miedl gab den Gunther als Schwächling, der sich gegenüber Hagen nicht behaupten kann, und ließ einen starken gut geführen Bariton hören. Seine Schwester Gutrune war mit sauberem, klarem Sopran Victoria Leshkevich. Schließlich verbreiteten die Rheintöchter Veronika Schäfer, Milda Tubelytė und Marlene Lichtenberg ausgewogenen Wohlklang. In der Einstudierung von Georg Menskes und Johanna Motter bewährten sich Chor und Extrachor des Staatstheaters.

Das Premierenpublikum war begeistert und überschüttete alle Mitwirkenden einschließlich des Orchesters, das aus dem Graben auf die Bühne kam, sowie die Leitungspersonen mit lang anhaltenden Ovationen.

Gerhard Eckels, 4. Juni 2023


Staatstheater Braunschweig

„Götterdämmerung“ Musikdrama von Richard Wagner

Besuchte Premiere am 3. Juni 2023

Regie: Beatrice Müller, Dagmar Schlingmann, Isabel Ostermann,

Choreografie: Gregor Zöllig

Musikalische Leitung: Sraba Dinic

Staatsorchester Braunschweig

Chor und Extrachor des Staatstheaters Braunschweig

Weitere Vorstellungen: 10., 18., 24. Juni 2023