Braunschweig: „Hänsel und Gretel“

Besuchte Vorstellung am 17. November 2017

Premiere am 4. November 2017

Gewöhnungsbedürftig

Milda Tubelyte/Matthias Stier

16 Jahre hat es gedauert, bis die Märchenoper von Engelbert Humperdinck in Braunschweig nun wieder zu erleben ist. Dabei ist das beliebte Werk seit der Weimarer Uraufführung 1883 unter der Leitung von Richard Strauss von unverändert großer Anziehungskraft und vermag bis heute Jung und Alt in seinen Bann zu schlagen. Das liegt sicher an der Übereinstimmung der mit Kinderliedversen angefüllten poetischen Gestalt des Librettos, in dem das Grimm’sche Märchen deutlich entschärft ist, mit der inspirierten, stimmungshaften Musik, die in „prachtvoller Polyphonie“ (Richard Strauss) und großem orchestralen Klang fast wagnerischen Ausmaßes eine idyllische Märchenwelt erstehen lässt.

Jelena Bankovic/Milda Tubelyte

In der wenig stimmungsvollen Inszenierung von Brigitte Fassbaender gibt es erfreulicher Weise keine psychologische Überfrachtung, sondern das Märchen bleibt, was es ist. Dennoch ist manches gewöhnungsbedürftig: So gibt es statt des sonst alles beherrschenden Waldes ein ziemlich heruntergekommenes Hotel, in dessen Foyer sich all das abspielt, was eigentlich die Atmosphäre des Waldes braucht (Ausstattung: Bettina Munzer). Nur in den Ouvertüre und Verwandlungsmusik begleitenden Schwarz-Weiß-Videos (Grigory Shklyar) gibt es Wald, wo Kinder mit Gepäck wie bei der Landverschickung mit der Harzer Schmalspurbahn in das genannte Hotel namens „Ilsenstein“ gebracht werden (tatsächlich existiert bei Ilsenburg im Harz ein „Am Ilsestein“, allerdings in deutlich modernerem Zuschnitt als das Bühnenmodell). Das verwunschene Hotel findet sich wieder als Bild in der schlichten Wohnung des Besenbinders Peter. Dort schickt die frustrierte Mutter die Kinder in den Wald, Erdbeeren sammeln. Diese landen im „Hotel Ilsenstein“, wo an der Rezeption ein greisenhaftes Kind beschäftigt ist, das sich später als Sandmännchen herausstellt, das den Kindern den Sand aus einem Salzstreuer in die Augen pustet (Moritz Gildner mit dezent verstärktem, ansprechend sauberem Knabensopran). Auch die Hexe ist schon da, eine bärtige Dame, die sich am nächsten Tag in eine Horror-Figur mit schmierigen Zottelhaaren, blutiger Schlachterschürze und Hackebeil verwandelt.

Milda Tubelyte/Matthias Stier

Während des Traums nach dem „Abendsegen“ bringen Hotelbedienstete Weihnachtsdekoration an und stellen 14 Rauschgoldengel auf. Als Hänsel und Gretel aus dem Traum erwachen, ist die Dekoration verschwunden und auf dem fahrbaren Tisch, auf dem der Weihnachtsbaum stand, befindet sich das etwas dürftige Hexenhaus. Völlig unpassend wird es ganz ernst und bedrückend, wenn die „Lebkuchenkinder“ in Mänteln und mit Koffern auftreten, als ob sie wie in unrühmlicher Vergangenheit in die Deportation gehen. Als Hänsel und Gretel ihnen ihre Sonnenbrillen abnehmen, werden sie richtig lebhaft und stimmen gemeinsam mit den Eltern klangvoll (Kinderchor des Staatstheaters: Mike Garling) in das positive Finale mit ein.

Gespielt und gesungen wurde in der besuchten Vorstellung mit beachtlichem Niveau; dass dabei niemand in ein Klischee verfiel, ist sicher auch das Verdienst der erfahrenen Regisseurin, die mit glaubwürdiger Personenführung für muntere Gestaltung sorgte. So war Jelena Banković eine liebenswerte kindliche Gretel, die ihren feinen, nicht sehr großen Sopran sicher und intonationsrein einzusetzen wusste. Als schlaksiger Hänsel gefiel Milda Tubelytė mit gut ausgeglichenem Mezzo; besonders anrührend war der von beiden wunderschön gesungene „Abendsegen“.

Jelena Bankovic/Matthias Stier/Milda Tubelyte

Nur selten kann man erleben, dass die Knusperhexe mit so schönen Tönen aufwartet wie der spielfreudige Matthias Stier mit seinem geschmeidigen lyrischen Tenor. Der Besenbinder Peter von Maximilian Krummen war weniger polterig, als man den besorgten Vater sonst erlebt; er nahm mit hellem, ausgesprochen kultiviertem Bariton für sich ein. Die Mutter war bei Nana Dzidziguri und ihrem kräftigen Mezzosopran gut aufgehoben; klarstimmig sang Marina Funke das Taumännchen.

Das Staatsorchester war gut aufgelegt und weitgehend aufmerksam; der mit gewohnter Präzision leitende Christopher Lichtenstein ließ es allerdings einige Male zu Lasten der Sänger auf der Bühne zu sehr lärmen.

Das Publikum im gut besetzten Haus jubelte begeistert über die Leistungen aller Beteiligten.

Fotos © Thomas M. Jauk

Gerhard Eckels 18. November 2017