Braunschweig: „La Bohème“

Zum Zweiten

Premiere: 01.12.2018

besuchte Vorstellung: 05.12.2018

Weihnachtsmärchen in Braunschweig

Lieber Opernfreund-Freund,

was wäre die Vorweihnachtszeit ohne Puccinis La Bohéme?! Und mit der Neuinszenierung dieses Klassikers macht uns allen der junge Regisseur Ben Baur, der jüngst noch als Bühnenbildner in der neuen Kölner Salome begeistern konnte, ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk, zeigt uns die traurige Liebesgeschichte vom eifersüchtigen Schriftsteller Rodolfo und der schwindsüchtigen Mimí als beeindruckende Kostümschlacht samt Feuerwerk und Schneegeriesel.

Schon als sich der Vorhang hebt, geht zufriedenes Raunen durch den Saal – keine postmoderne Regietheater-Adaption, kein Umgedeute erwartet den Zuschauer im Staatstheater der Löwenstadt, sondern pure Nostalgie. Das heißt aber nicht, dass Ben Baur sich auf eine bloße Bebilderung beschränkt, sondern, im Gegenteil, durch das Setzen einzelner Akzente sowie mittels einer durchdachten Personenführung wahrhaft zu erzählen vermag. Über den Dächern von Paris vor romantischer Silhouette beginnt die Oper, die auf Henri Murgers Szenen basiert, ehe uns Baur, der gleichsam für den Bühnenaufbau verantwortlich zeichnet, in ein Varieté des Fin de Siècle – also der Entstehungszeit der Oper – samt Jongleuren, Harlekins und Cancan-Tänzerinnen entführt. Die so aufwändigen wie stilgerechten Kostüme von Julia K. Berndt beschwören die Belle Epoche herauf und werden im letzten Bild, das nun im Innern der Künstler-Mansarde spielt, zum Vorzeichen des nahen Todes von Mimi. Gerade die Szene im Café Momus wird oft und gerne zum überfrachteten Gewusel, dank einer stringenten Personenregie setzt Baur hingegen immer den rechten Focus, ohne der Erzählung den Fluss zu nehmen; dabei hilft ihm auch die genaue Lichtführung von Frank Kaster, die ebenso stimmungsvoll den leisen fallenden Schnee im dritten Akt untermalt.

Auch stimmlich bleibt bei Operntraditionalisten kaum ein Wunsch offen. Bereits die ersten Töne von Angelo Samartzis erinnern mit ihrem metallischen Timbre an den jungen Luciano Pavarotti und über den ganzen Abend singt der junge Grieche nuanciert und zeigt gefühlvoll zahlreiche Facetten des andernorts oft recht eindimensional gezeichneten Rodolfo. Da und dort hätte ich mir allerdings ein wenig mehr Durchhaltevermögen gewünscht. Diesbezüglich bleiben beim jungen Vincenzo Neri keine Wünsche offen. Sein satter Bariton strotzt nur so vor Kraft und so gelingt ihm ein Marcello par excellence. Ekaterina Kudryavtseva braucht als Mimí ein paar Minuten, um echte Präsenz zu zeigen. Allerdings macht sie das mit einer umwerfenden stimmlichen wie darstellerischen Leistung in der zweiten Hälfte des Abends mehr als wett und erzeugt spätestens in den letzten fünfzehn Minuten pure Gänsehaut. Jelena Banković ist eine energiegeladene Musetta, der man das feurige Weibsbild auf ganzer Linie abnimmt und die mit brillanter Höhe gefällt, Maximilian Krummen ein gefühlvoller Schaunard voller Sentiment. Davon im Überfluss hat auch Jisang Ryus satter Bass und so wird sein Colline ein Genuss. Michael Eder überzeugt als schrulliger Vermieter ebenso wie als bedauernswerter, gehetzter Alcindoro und auch der Rest des Ensembles kann sich durch die Bank hören und sehen lassen.

Iván López Reynoso präsentiert ein beschwingtes und freches Dirigat und arbeitet einzelne Stimmen so ungewöhnlich detailliert hervor, dass einem in der bekannten Partitur immer wieder neue Akzente auffallen. Er gefällt sich allerdings in den klanglich wuchtigen Passagen bisweilen so gut, dass er die Sängerinnen und Sänger überdeckt. Nicht immer ganz aufeinander abgestimmt scheinen gestern zudem die Holzbläser zu sein. Ähnliches ist bei den Damen und Herren und Kinder des Chores und des Belcanto-Kinderchores nicht zu beobachten. Bestens disponiert präsentieren sich alle als klangliche Einheit und bleiben im anspruchsvollen Spiel durchaus Individuen. Das ist den Chorleitern Johanna Motter, Georg Menskes und Mike Garling ebenso zu verdanken wie Ben Baur, der mit dieser Produktion mit Sicherheit einen langjährigen Beitrag zum Braunschweiger Repertoire geleistet hat. Seine Boheme ist von traditioneller Machart und doch packend erzählt – und genau das machen Repertoireklassiker ja gerne einmal aus.

Also: Nichts wie hinein in diese Bohéme, lieber Opernfreund-Freund. Nehmen Sie gerne auch Opern-Newbies mit – und das vielleicht nicht nur zur Weihnachtszeit. Es wir ihnen gefallen – und Ihnen!

Ihr Jochen Rüth 06.12.2018

Die Fotos stammen von Björn Hickmann stage picture und zeigen teilweise die Alternativbesetzung.