Braunschweig: „Tagebuch eines Verschollenen“ / „La voix humaine“

Besuchte Vorstellung am 5. Mai 2018

Premiere am 15. April 2018

Eindringlich

Auf den ersten Blick erschließt sich nicht, warum Poulencs einaktige Tragédie lyrique „La Voix humaine“ mit dem Liedzyklus „Tagebuch eines Verschollenen“ von Leos Janácek in der Produktion zusammengefasst worden ist. Die Werke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Uraufführungen 40 Jahre auseinanderliegen, weisen sehr unterschiedliche Kompositionsstile auf: Während Poulenc fast durchgängig rezitativisches Singen verlangt, sind die Lieder des „Tagebuch“ meist von schlichter, spätromantischer Lyrik. Den Stücken ist gemeinsam, dass von ihnen Klavier-Fassungen existieren, die man äußerlich gut miteinander verbinden kann. Inhaltlich fällt bei näherer Betrachtung eine weitere Gemeinsamkeit auf: Beide „Akteure“ durchleiden eine existentielle Krise; bei Poulenc ist es die junge Frau, von der sich ihr Geliebter abgewandt hat und den sie in einem verzweifelten, immer wieder gestörten Telefonat zurückzugewinnen sucht. Janáceks Bauernbursche wendet sich nach anfänglichem Widerstreben einer Fremden zu, die ein Kind von ihm erwartet, flieht mit ihr und verlässt damit den Schutz der Familie. Am Schluss allerdings gibt es keine Übereinstimmung mehr: Während die junge Frau das Telefonkabel um den Hals schnürt und ein letztes „Je t’aime“ haucht, verzweifelt der junge Mann nicht, sondern bejaht sein ungewisses Schicksal in der Fremde.

Braunschweigs Operndirektorin Isabel Ostermann hatte bereits 2014 an der Berliner Staatsoper die beiden Stücke herausgebracht und nun mit wenigen Veränderungen an ihrer neuen Wirkungsstätte vorgestellt. Auf der kahlen Spielfläche im Kleinen Haus befanden sich zwei karge, durch Holzbalken angedeutete Räume, in denen die beiden Personen nicht etwa nacheinander, sondern abwechselnd agierten (Ausstattung: Stephan von Wedel). Die so wichtigen Texte wurden in der jeweiligen Originalsprache gesungen; die beiden Monitore mit den deutschen Obertiteln waren allerdings ungünstig angebracht, sodass sie für das Publikum nur teilweise sichtbar waren. Musikalisch sind beide Werke ineinander verschränkt, sodass der musikalische Leiter Christopher Lichtenstein am Klavier zwischen beiden Partituren hin und her springen und auch einige Orchester-Passagen der Poulenc-Oper vom Band abspielen musste. Das alles meisterte der junge Kapellmeister glänzend. Dadurch, dass das Publikum ganz nah um die Spielfläche herum saß, entstand eine eindringliche, unmittelbar packende Atmosphäre.

Die junge Frau war Carolin Löffler, die auch die „Fremde“ im „Tagebuch“ spielte und sang. Faszinierend und ungemein intensiv gestaltete sie die verlassene, tief enttäuschte Frau, indem sie mit stets perfekter Diktion zunächst fast spielerisch ihrem Ex-Geliebten weismachen wollte, dass sie imstande war, ihr Leben unbeeinflusst von seinem Verhalten weiterzuführen. Im Laufe des Abends brach sich ihre große Verzweiflung Bahn, als ihr temperamentvolles Aufbegehren ins Leere ging; zwischendurch empörte sie sich über die die Verbindung immer wieder störende Telefonistin, dann wieder beschwor sie den Geliebten, krümmte sich vor seelischem Schmerz am Boden, wurde plötzlich ganz ruhig und entschloss sich schließlich zum Suizid („Ich habe jetzt das Kabel um den Hals – deine Stimme um meinen Hals“). Von starker Wirkung war ihr ausgesprochen farbenreicher Mezzosopran mit großem Stimmumfang, den sie in allen Lagen, auch in den dramatischen Ausbrüchen sicher einsetzte. Ihre Gesamtleistung war in jeder Beziehung, musikalisch und darstellerisch, von herausragendem Niveau.

Dagegen hatte es der als indisponiert angesagte Isländer Benedikt Kristjánsson schwer. Darstellerisch konnte er nicht so starke Akzente setzen, weil er meist über sein Tagebuch zu sinnieren und lyrische Lieder zu singen hatte. Positiv fiel auf, dass er seinen schlanken Tenor sehr sauber intonierte; schade, nur, dass er sich stimmlich so zurückhalten musste, dass er in den wenigen dramatischeren Passagen und am Schluss, als beide Protagonisten gleichzeitig zu singen hatten, kaum zu hören war.

Im „Tagebuch“ verbreiteten die Choristinnen Annegret Glaser, Andreja Schmeetz, Daina Vingelyte, Mareike Lennert, Jasmin Jablonski, Julia Chmielewska und Masami Tanaka aus dem Off schön ausgewogenen Wohlklang.

Das Publikum war zu Recht begeistert und dankte allen Beteiligten mit starkem, lang anhaltendem Beifall.

Fotos: © Vincent Stefan

Gerhard Eckels 6. Mai 2018