Premiere: 4.3.17
Besuchte Vorstellung: 9.4.17
Traditionell inszeniert und doch auf den Punkt gebracht
Lieber Opernfreund-Freund,
eigentlich wollte ich mir gestern Janáčeks „Jenůfa“ am Staatstheater Darmstadt ohne Rezensentenstift in der Hand oder im Kopf anschauen, gewissermaßen im Vorbeigehen zum reinen Privatvergnügen, bin aber von dem Nachmittag dermaßen bewegt, dass ich Ihnen schon wieder schreiben muss.
Die Crux bei vielen Inszenierungen von Opern, die im ländlichen Bauernmilieu angesiedelt sind, scheint heutzutage zu sein, dass man dem Publikum nicht mehr zutraut, eine Transferleistung zu vollbringen. Um jeden Preis will man Heimeligkeit vermeiden, damit nichts altbacken wirkt, und zudem muss man dem aus der Stadt stammenden Zuschauer ja plastisch vor Augen führen, dass Konflikte auf einem Bauernhof auch durchaus in Fabrikhallen des 21. Jahrhunderts stattfinden können. Da muss „La Wally“ vom „Alpenkitsch“ befreit werden, „Die verkaufte Braut“ nach Thailand oder „Cavalleria rusticana“ ins Raumschiff verlegt werden. Dass es auch anders geht und mehr als gelingen kann, zeigt derzeit der Regisseur Dirk Schmeding, der in Darmstadt in der Spielzeit 2014/15 schon für die Umsetzung von „Das schlaue Füchslein“ verantwortlich zeichnete.
Er belässt die Handlung der „Jenůfa“ eindeutig in der von Janéček angedachten Zeit in Mähren, setzt aber deutliche Akzente, indem er die tragische Figur der Küsterin von Anfang an als Außenseiterin zeigt. Dies zeigt sich schon in deren Kleidung, die in tristem Schwarz und Grau einen schmucklosen Kontrast zu den farbenfrohen volantbesetzten Röcken der übrigen Dorfbewohner darstellt, die Frank Lichtenberg mit viel Liebe zum Detail gefertigt hat. Als Störenfried der Gemeinschaft tritt sie auf mit ihrer strengen, bigotten Art, hatte sie doch einst selbst ein freudvolleres Leben, wie sie in ihrer Eingangserzählung andeutet. Eigentlich will niemand etwas mit ihr zu tun haben. Nicht einmal ihre Ziehtochter Jenůfa will ihren vermeintlichen Schutz. Dies zeigt sich schon in kleinen Gesten, wenn beispielsweise Jenůfa den wärmenden Mantel, den ihr die Küsterin im zweiten Akt beharrlich um die Schultern legen will, ein ums andere Mal abstreift, und findet seinen Höhepunkt im Schlussakt, als sich im wahrsten Wortsinne ein Graben zwischen der wahnsinnig gewordenen Küsterin, Jenůfa und der übrigen Gemeinschaft aufgetan hat.
Doch da ist Jenůfa schon längst der Küsterin ähnlich geworden, hat jegliche Lebensfreude abgelegt und fügt sich in ihr Schicksal, das sie wie die Küsterin als gottgewollte Quittung für ihr bisheriges Leben begreift. Dass sie dabei in schwarzem Kleid zum Altar will, einer Farbe die bislang für die Küsterin reserviert war, ist nur folgerichtig und der Zuschauer ahnt mit ihr, dass ihrer Zukunft mit Laca, mit dem sie zum Schlussduett das tote Kind begräbt, kein Glück beschieden sein wird. Stattfinden lässt Dirk Schmeding seine Erzählung auf einer kargen Bühne, auf der der Grundstock eines Hauses zu stehen scheint, dass niemals fertig geworden ist. Nur vereinzelt setzt er Strohballen als Kulisse ein, die Laken im zweiten Akt, sind gleichsam Bett- und Leichentuch, aber auch der Teppich, unter den alles gekehrt werden soll (Bühne: Martina Segna). Von Dorfidylle also keine Spur. Durch diese gelungene Gradwanderung zwischen traditioneller Lesart und anderem Focus vergehen die gut zwei Stunden wie im Flug, entsteht spannendes Musiktheater, ohne dass das Werk auf links gedreht werden müsste.
Das Produktionsteam kann sich aber auch auf eine extrem leistungsstarke Künstlerriege verlassen: Während der ersten Vorstellungen hatte noch die Französin Iris Vermillion für die erkrankte Katrin Gerstenberger die Gestaltung der Küsterin übernehmen müssen, so dass die Kammersängerin gestern erstmals als Küsterin zu erleben war. Während der ersten Phrasen erschien mir ihr kräftiger Mezzo doch recht hell und wenig brustlastig für die Gestaltung dieser vielschichtigen und auch abgründigen Figur. Bereits im zweiten Akt aber brillierte das langjährige Ensemblemitglied mit Verve und Leidenschaft, zeigt schneidende Höhen und Mut zur stimmlichen Hässlichkeit und wird spätestens in der Darstellung im Schlussakt dermaßen glaubwürdig, dass man denkt, sie würde sich in der Tat jeden Moment im Wahn von der Brüstung zum Orchestergaben, auf der sie in sich versunken hin und her balanciert, in den selbigen stürzen. Katharina Persicke gibt die Jenůfa mit berührendem Sopran voller Mitgefühl erzeugendem Timbre und reich an Farben. So gelingt ihr eine überzeugende und glaubhafte Darstellung der Figur, die alles erduldet und alles verzeiht – ihrem Mann ihre körperliche Entstellung und ihrer Stiefmutter den Mord am eigenen Kind. Auch Marco Jentzsch ist gestern schlicht brilliant, gefällt mir als Laca mit seinem klaren, hellen Tenor ausgesprochen gut. Scheinbar mühelos bewältigt er die Partie der Figur, der gegenüber ich selten Sympathie entwickeln kann. Sein Bruder Stewa wird von Bariton Mickael Spadaccini mit großer Leidenschaft verkörpert, der junge Belgier spielt den Womanizer zudem einfach grandios. Thomas Mehnert imponiert mir als Altgesell mit durchschlagkräftigem Bass in blutverschmierter Metzgerschürze, Anja Bildstein ist eine so würdige wie keifende alte Buryja, Jana Baumeister zeigt als lebenslustiger Jano ihren feinen Sopran und Joyce de Souza ist eine ansteckend quirlige Karolka. Auch der Rest des Ensembles gefällt in den zahlreichen übrigen Rollen.
Thomas Eitler-de Lint hat mit dem Opernchor hörbar intensiv gearbeitet. Die Damen und Herren sind bestens disponiert und leisten ganze Arbeit. Das tut auch Will Humburg am Pult. Sein Talent, komponierte Gefühle und Gemütszustände hörbar zu machen, zeigt sich bei diesem Janáček ganz besonders. Mit dem Staatsorchester Darmstadt breitet er den Künstlern auf der Bühne gewissermaßen den roten Klangteppich aus, so dass diese ihre „Jenůfa“ auf Deutsch bei ausgezeichneter Textverständlichkeit zum Besten geben können.
Das Staatstheater Darmstadt ist am gestrigen Nachmittag nur spärlich besucht. Das mag dem zeitgleich stattfindenden Stadtfest oder den sonnigen 25 Grad geschuldet sein, die eher in die Eisdiele denn ins Theater locken. Vielleicht haben sich aber das hohe Niveau und die künstlerische Qualität dieser bewegenden Produktion noch nicht genug herum gesprochen und ich freue mich, wenn ich das mit diesen Zeilen habe ändern können.
Ihr Jochen Rüth 10.04.17
Die Bilder stammen von Martin Sigmund.