Darmstadt: „Parsifal“

Konsistent bebildert

Vorstellung am 13.04.2014 (Premiere am 10.02.2008)

Kunst anstelle von Religionslehre – ein anregendes Bilderbuch

Im Wagnerjahr plus eins kommt in Darmstadt nun der Parsifal in der Inszenierung von John Dew in der dritten Wiederaufnahme des seit der Premiere 2008. Legion ist schon inzwischen schon wieder die Zahl der seither vorgestellten Neu- und Umdeutungen, Veränderungen und Dekonstruktionen, die dieses sehr belastungsfähige Werk erfahren hat und gegen die sich Dew’s Parsifal-Bebilderung behauptet, die er mit viel Fantasie und schönen Einfällen einfach und verständlich erzählt und zwar ohne sie irgendwo zu verbiegen. Er setzt dabei das Bühnenweihspiel visuell in den Kontext zu dem, was Wagner in seinem Werk an Einflüssen verarbeitet hat. Als Zutaten hat John Dew, wie er im Programmheft schreibt, eigenes frühes Erleben des Werks berücksichtigt. Um es vorweg zu resümieren, das ist mit ansprechender Ästhetik angelegt, durchweg stimmig, erfrischend und nie verkopft.

John Dews zig-fach bewährtes Ausstatterteam (Kostüme: José-Manues Vásquez; Bühne: Heinz Balthes) unterstützte die Produktion mit einem zurückgenommenen Bühnenbild und eher schlichten Kostümen, die – wo sinnvoll – einen Bezug zur Entstehungszeit des Werks herstellen. Die klare Struktur der Oper findet man im Bühnenbild wieder. Also kein Einheitsbühnenbild (z. B. auf Müllhalden, Hinterhöfen oder Turnhallen), sondern etwas zurückgenommen, abstrakt und mit einiger Symbolik.

Das erste Bild des ersten Aufzugs spielt auf einer breiten, einfachen Bühne; vorne sind in jugendstilmäßig verschlungen Großbuchstaben die Namen von vier Kirchenlehrern Altar-ähnlich aufgebaut (Augustinus, Hieronymus, Gregorius und Ambrosius), dahinter eine große Schultafel, aufgeschlagen in Form eines Triptychons: der Gralsmythos ist dort mit bunten Kreidezeichnungen skizziert. Gurnemanz erteilt den Knappen und den Gralsrittern Unterricht in Religions- und Gralsgeschichte. Zur Verwandlung werden Altar und Tafel versenkt; ein großes Kruzifix senkt sich waagerecht über die Bühne, und ganz langsam wird von hinten die Gralsszene hereingefahren; 20 Speere mit leuchtenden Schaften und Spitzen kreisen das Heiligtum ein. Nach der Zeremonie fährt die heilige Stätte wieder nach hinten; Gurnemanz verabschiedet Parsifal auf der leeren Bühne, über welche der Gekreuzigte wacht.

Im zweiten Aufzug besteht der Altar der Kirchenlehrer nun aus den Namen berühmter Kirchen- und Religionskritiker: die Großbuchstaben für Voltaire, Nietzsche, Marx und Spinoza bilden eine Art Chorlettner. Dahinter befindet sich ein riesiges aufgeschlagenes Buch, wohl mit dem in Fraktur gesetzten Parzival-Epos. Statt des Gekreuzigten über der Bühne wird eine sich ums Kreuz ringelnde Monsterschlange mit weit aufgerissenem Maul sichtbar. Klingsor beschwört Kundry, die sich in einem Kleid aus dem Buch herausschält, auf welchem die gleiche Geschichte aufgedruckt ist wie auf dem Buch. Die Gestalt von Klingsor könnte dem jungen Nietzsche nachempfunden sein. In diesem Kontrastprogramm des zweiten Aufzugs geht es also nicht mehr um Kirche und Religion, sondern viel breiter um Philosophie. Aber der Lettner dient auch den neckischen Blumenmädchen (ebenfalls in wortreich bedruckter Kleidung) zu ihren Spielchen mit Parsifal. Zum großen Duett Parsifal-Kundry verschwindet alles andere in der Versenkung; die beiden bleiben mit ein par Kissen allein auf der Bühne, in der auch Klingsor versinkt, nachdem er seinen Speer vergeblich gen Parsifal geschleudert hat.

Der dritte Aufzug beginnt auf freiem, verschneitem Feld. Die Strahlen der Sonne spielen zur Karfreitagsmusik mit dem Wellenschlag des heiligen Quells und tauen zum höchsten Feiertag den Schnee auf. Sehr zurückgenommen sind die kultischen Handlungen zwischen Gurnemanz, Kundry und Parsifal. Kundry befreit Parsifal aus seiner schwarzen Rüstung; heraus kommt ein Mann in dunklem, einfachen Jetztzeitanzug: der neue König der Gralsritter ohne Pomp und Ornat. Die Verwandlung wird diesmal hinter geschlossenem Vorhang vorgenommen. Wie John Dew die Oper liest zeigt er nach der Gralszeremonie und den vollbrachten Erlösungen: "Da wo die Religion künstlich wird, ist es der Kunst vorbehalten, den Kern der Religion zu retten (Richard Wagner)" steht auf einem Vorhang, der vor die letzte Szene gezogen wird. Der Mann im einfachen dunklen Anzug, der neue Gralskönig ohne Pomp und Ornat, ist das der Künstler, die die Religion mit seiner Kunst rettet?

John Dews Inszenierung zeigt eine wohlstrukturierte Sicht auf Wagners „Parsifal“: zurückgenommen und vornehm in der Ästhetik, eine Bebilderung frei von allem Umdeutungsmüll. Auch die Personenführung ist zurückgenommen, teilweise statisch – passend zur “langsamsten Oper“ aller Zeiten. Die Bewegung der großen Chöre wirkt klassisch gemessen, aber nie oratorienhaft steif.

Martin Lukas Meister am Pult des Staatsorchesters Darmstadt wählte für das Vorspiel ein recht gemessenes Tempo mit prononcierten Generalpausen und blieb auch beim ersten Aufzug in im Tempo sehr verhalten, was manchmal zu Längen führte. Die Musik zum zweiten Akt wurde mit sehr intensiven Färbungen zwischen den Wallungen der Streicher und den Holzbläsern dargeboten. Im dritten Aufzug gefiel die weihevoll getragene Musik mit ihren langen Bögen und schön herausgearbeiteten Crescendi. Kleinere Ungenauigkeiten bleiben im Graben bei einem Werk von über vier Stunden reiner Spielzeit nicht aus; aber insgesamt konnte sich die konzentrierte Leistung des gut disponierten Darmstädter Orchesters durchaus Parsifal-würdig hören lassen. Auch beim Chor gab es zunächst ein paar Unschärfen; aber als sich die Nervosität gelegt hatte, brachten sich Chor und Extrachor (Einstudierung: Markus Baisch) sehr klangschön und präzise zu Gehör.

Unter den Solisten war Dimitry Ivashchenko als Gurnemanz die beherrschende Gestalt: einfach grandios die Bewältigung seiner Riesenrolle im ersten Aufzug; mit kaum zu übertreffender sprachlicher Klarheit und akzentfrei ließ er seinen Bass strömen; ein wirklicher Hörgenuss, zu welchem sich mit seiner schlanken, hochgewachsenen Gestalt auch noch der visuell optimale Eindruck gesellte. Überwältigend auch wieder Katrin Gerstenberger als Kundry mit ihrem samtig ansprechenden Mezzo, ihrer warmen Mittellage, differenzierter Farbgebung und den klaren Höhen ohne Schärfe sowie ihrer Innigkeit im Ausdruck, mit der sie noch deutlich mehr als mit ihrer Dramatik zu überzeugen wusste. Zurab Zurabishvili, wie Ivashchenko ehemaliges Ensemblemitglied am Darmstädter Haus, war als Parsifal im Rollendebut besetzt und sang ihn mit feinem, leicht eingedunkeltem Tenor von bronzenem Schmelz mit leuchtenden kräftigen Höhen; auch von seiner eher mediterranen Bühnenerscheinung der "etwas andere Parsifal"; etwas mehr Durchschlagskraft hätte man sich im Parlando gewünscht. Obwohl seine Tessitura etwas zu tief für den Amfortas liegt, gestaltete Ralf Lukas, der in Darmstadt schon mit vielen großen Wagner-Partien überzeugt hat, diese Rolle gesanglich ebenso kraftvoll wie geschmeidig, kultiviert und einfühlsam. Gut kontrastierte Gerd Vogel dazu als Klingsor mit seinem etwas raueren, dunklen Material. Hubert Bischof gab als Titurel verlässlich kurze Kostproben seines Könnens aus dem Off, teilweise verstärkt. Die Blumenmädchen Aki Hashimoto, Susanne Serfling, Maria Victoria Jorge Hernandíz, Catalina Bertucci, Anja Vincken und Erica Brookhyser fanden zu einem darstellerisch wie gesanglich bezaubernden Doppelterzett zusammen.

Großer Beifall zum Schluss der Oper aus dem gute besuchten Haus, dessen Publikum der Veranstaltung hochkonzentriert gefolgt war. Der scheidende Darmstädter Intendant unterbrach den Applaus und wandte sich an sein Publikum wandte. Bei den beiden Gäste des Abends Katrin Gerstenberg und Dimitry Ivashchenko, die früher einmal Mitglieder des Darmstädter Ensembles gewesen waren, bedankte er sich für deren Rückkehr ans Haus und überließ dann einem Vertreter der Landesregierung aus Wiesbaden die Stätte: Katrin Gerstenberger und Hubert Bischof wurde jeweils der Ehrentitel als Kammersänger des Landes Hessen verliehen, den es seit kurzem auch in diesem Bundesland gibt, für ihre gesanglichen Leistungen und ihre Verdienste ums Staatstheater. — Die Derniere des Dewschen Parsifal findet am Karfreitag, 18.04.14. statt. Es gibt noch Karten. Mit Preisen zwischen 11,50 und 39,00 EUR für die mit Pausen knapp sechsstündige Veranstaltung ist das Staatstheater im Preisleistungsverhältnis in Deutschland ungeschlagen.

Manfred Langer, 14.04.2014

Die Bilder von der Premiere stammen von Barbara Aumüller