Einen das Publikum sehr fordernden Abend hat der Intendant des Staatstheaters Darmstadt, Karsten Wiegand, für die jüngste Premiere zusammengestellt: Er verbindet zwei für den Konzertsaal konzipierte Stücke, die gegensätzlicher nicht sein könnten, aber in der gewählten Abfolge als komplementäre Teile gut funktionieren.
Der erste und zugleich längste Teil bietet Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter. Mit diesem „Dichter“ war in der langen Entstehungsphase des Werks Sergej Jessenin gemeint, der sich 1925 das Leben genommen und als Abschiedsbrief ein mit dem eigenen Blut geschriebenes Gedicht hinterlassen hatte. Dieses drastische literarische Ausrufungszeichen wiederum veranlasste seinen Dichterkollegen Wladimir Majakowski als Kontrapunkt zu einem lyrischen Nachruf. Auszüge daraus, eher Satz- und Wortfetzen sind nun als Toneinspielungen in eine komplexe Klangcollage zusammen mit einer Fülle weiterer Texte einmontiert. Zu hören sind unter anderem Papst Johannes XXIII. und Alexander Dubček, Texte des ebenfalls durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Dichters Konrad Bayer, von Ezra Pound und vieler weiterer Dichter und Gestalten der Zeitgeschichte. Zu diesen Toneinspielungen kommen live gesprochene Auszüge aus der „Mao-Bibel“ und dem Grundgesetz sowie im Gesang Auszüge aus dem lateinischen Text des katholischen Requiems und, ebenfalls auf Latein, Zitate aus dem letzten Buch der Bibel, der Johannes-Apokalypse. Die Texte überlagern sich und bilden mit Klängen von Chor, Orchester und Gesangssolisten einen bewusst in seiner Komplexität niemals vollständig erfassbaren Bewusstseinsstrom mit Überlagerungen von Gedanken und historischen Zeitebenen. Hier wird eine Technik aus James Joyces Ulisses übernommen und potenziert. Als Reminiszenz daran wird folgerichtig auch aus dem berühmten Ulisses-Schlussmonolog zitiert. Zu Beginn aber stehen Gedanken von Ludwig Wittgenstein zur Sprachtheorie, die gleichsam den übergeordneten Charakter des Werkes präsentieren: Es handelt sich um ein „Lingual“, ein Sprachspiel, in dem die Erzeugung von Vorstellungen durch das Aussprechen von Worten demonstriert und zugleich in assoziativer Form der Kommunikation über Generationen und Zeiten hinweg nachgegangen wird.
Das Publikum begreift schnell, dass es sich von seinen Rezeptionsgewohnheiten verabschieden muss. Zu Beginn lauscht man noch dem Wittgenstein-Text und will ihn vollständig erfassen, was aber von den hinzutretenden Klangüberlagerungen immer stärker erschwert wird. Das von Karsten Wiegand ersonnene Bühnenbild dazu bietet nur scheinbar eine Hilfe. Am vorderen Bühnenrand ergießt sich aus dem Schnürboden Wasser und bildet einen Regenvorhang, auf den immer wieder einzelne Worte aus dem Wittgenstein-Text projiziert werden. Zunächst denkt man dankbar, hier würden quasi als Ersatz für die sonst üblichen Übertitel Verständnis-Krücken präsentiert. Schnell aber zeigt sich, dass auch dies nur Gedankenblitze im großen Bewusstseinsstrom sind. Zu kurz ist die Verweildauer der Texteinblendungen. Sie sinken schnell mit dem Regen zu Boden und lösen sich dort auf: flüchtige Impressionen. Ein starkes, ein einleuchtendes Bild. Man begreift dadurch, dass es hier nicht um das vollständige Erfassen von Inhalten geht und lässt sich auf das kunstvoll erzeugte Neuronengewitter ein.
Dass die Inszenierung im weiteren Verlauf zu der Komplexität der Klangeindrücke eine ebenso komplexe und dichte Abfolge von optischen Eindrücken setzt mit Projektionen auf mehreren hintereinander gestaffelten transparenten Flächen und darin agierenden Darstellern, erzeugt erstaunlicherweise keinen sensualen Overkill, sondern lenkt den eigenen Gedankenstrom auf die Intention des Komponisten. Man erlebt die Komplexität und Ambivalenz von Revolutionen und Befreiungsbewegungen im 20. Jahrhundert: Nazi-Aufmärsche stehen neben Bildern vom Mauerfall 1989, demonstrierende Homosexuelle neben Martin Luther King neben Mao Tse-tung, Befreiung neben nationalistischer Erhebung, friedliche Proteste neben Gewalt. Es war dem Komponisten nämlich übel aufgestoßen, dass die Studentenproteste von 1968 insbesondere mit der Berufung auf die Gewaltverharmlosung des Massenmörders Mao einen Zug ins Fanatische nahmen, der strukturelle Bezüge zu 1933 aufwies.
So gelingt es Karsten Wiegand und seinem Produktionsteam, zu diesem Kern des Werks ohne Belehrung oder ideologische Festlegung vorzudringen. Am deutlichsten kommt die bewusste Nichtfestlegung, der Verzicht auf überdeutliche Parteinahme in einer der plakativeren szenischen Einfälle zum Ausdruck: Aus dem Bühnenboden wird eine Menschenmenge hochgefahren, die offenbar für oder gegen etwas demonstriert. Der Gegenstand aber bleibt offen: Die emporgehaltenen Transparente sind leer. Die Demonstranten sind in bunt gemusterte, ein wenig groteske Kostüme gekleidet (Judith Adam) und tragen eigenartige Perücken, sind damit also weder einer Epoche, noch einer ethnischen oder sozialen Gruppe zuordbar.
Wenn man sich auf das Spiel mit den Gedankenströmen einlässt, meditiert man gleichsam über Freiheit, Befreiung und Gewalt. Man wird dabei von einem Raumklang eingehüllt, der zugleich im Orchestergraben, von im Saal verteilten Lautsprechern, drei Chören, links und rechts vom Orchestergraben positionierten Instrumentalisten und schließlich auch einer Jazz-Band auf der Bühne erzeugt wird. Auch musikalisch wird zitiert, was das Zeug hält, von Isoldes Liebestod bis zu Hey Jude von den Beatles. Die Cluster der Chöre erinnern an Ligetis Requiem-Vertonung. Karsten Januschke organisiert dies souverän mit klarer Zeichengebung.
Auf die maximale Komplexität folgt dann wie in einem Epilog mit Morton Feldmans Rothko Chapel maximale Reduktion. Vor der nun völlig leeren und undurchdringlich schwarzen Bühne wird ein Rechteck heruntergelassen, das in einen hell leuchtenden Rahmen eingefasst ist. Lediglich die Form nimmt Bezug auf Mark Rothkos abstrakte Bilder, die er an seinem Lebensende für eine Kapelle im amerikanischen Houston geschaffen hatte. Ihre Wirkung, das Wahrnehmen von Farbvarianten in scheinbar monochromen Flächen bei längerer Betrachtung, findet hier visuell nicht statt. Dieser Effekt wird gleichsam vom Sehen auf das Hören übertragen. Aus dem ersten Rang senken sich milde Vokalisen des Chors in den Zuschauerraum herunter, eine Pauke schnurrt sanft dazu, eine Viola singt Kantilenen. Es ist wie ein langes, langsames Ausatmen, in dem dieser Abend verklingt.
Die Auswahl und Kombination der Stücke und die Ankündigungen im Vorfeld zu dieser ungewöhnlichen Premiere hatten die Befürchtung geweckt, einem theoretisierenden, nur auf dem Papier funktionierenden intellektuellen Experiment beiwohnen zu müssen. Diese Befürchtung war unberechtigt. Tatsächlich entfaltet die musikalisch hochkompetent realisierte Klangcollage von Bernd Alois Zimmermann auch dann einen Reiz, gelingt auch dann ein intuitiver Zugang, wenn man sich nicht mittels Programmheft oder Einführungsvortrag mit den Hintergründen der Komposition beschäftigt hat. Die in Darmstadt dazu gefundenen starken Bilder erweitern das intensive akustische Erlebnis. Der Ausklang mit Morton Feldman fügt sich unerwartet stimmig hinzu, weil er in seiner Ruhe und Reduziertheit Raum für den Nachhall des Hauptwerkes bietet.
Ein solcher Abend erfordert ein aufgeschlossenes und konzentriertes Publikum. Der Jubel im Schlussbeifall zeigt, dass Darmstadt darüber verfügt.
Michael Demel, 4. Oktober 2024
Bernd Alois Zimmermann: Requiem für einen jungen Dichter
Morton Feldman: Rothko Chapel
Staatstheater Darmstadt
Premiere am 2. Oktober 2024
Inszenierung: Karsten Wiegand
Musikalische Leitung: Karsten Januschke
Staatsorchester Darmstadt
Weitere Aufführungen: 12. und 26. Oktober, 8. November 2024