Darmstadt: „Turandot“ als Fragment

Premiere: 31.08.2019
besuchte Vorstellung: 06.10.2019

Diffuse Deutung von Puccinis Schwanengesang

Lieber Opernfreund-Freund,

große Aufmerksamkeit ruft derzeit die Turandot-Produktion hervor, die seit ein paar Wochen am Staatstheater Darmstadt zu erleben ist, nicht etwa, weil diese Tatsache an sich so eine Sensation wäre, sondern weil Regisseur Valentin Schwarz 2020 für den nächsten Ring in Bayreuth verantwortlich zeichnen wird. Wie der junge, aus Österreich stammende Regisseur Puccinis Schwanengesang sieht habe ich mir am Wochenende für Sie angesehen.

Ein weiser Entschluss ist es sicherlich, Puccinis Turandot als Fragment zu belassen. Die Beweinung Liús als Schlusspunkt der Oper setzt einen anderen, viel tiefgründigeren Focus auf die Geschichte um die eisumgürtete chinesische Prinzessin, als es das Happyend zuließe. Schließlich hatte auch Puccini selbst mit der Wandlung von der unnahbaren Kaisertochter zur innig liebenden Frau aus Fleisch und Blut so seine Schwierigkeiten. Im März 1924 hatte er die Oper bis zu Liús Tod fertiggestellt, kam aber beim Schlussduett über ein paar Skizzen nicht hinaus, bis er am 29. November desselben Jahres starb. Doch gibt Valentin Schwarz dem Zuschauer wie die titelgebende Prinzessin Rätsel auf mit seiner tiefenpsychlogieschwangeren Deutung, will zu viel und erschließt dem Zuschauer gleichermaßen zu wenig. Prinz Calaf ist bei ihm ein Maler, der zu Beginn der Oper vor einem riesigen, verstörenden Gemälde seines eigenen Innenlebens steht (Bühne: Andrea Cozzi). Liú ist nicht etwa eine Sklavin, der er einmal im Palast zulächelte und die deshalb zur einzigen Stütze seines blinden Vaters wurde, sondern scheint vielmehr seine Freundin zu sein, die hilflos dabei zusehen muss, wie der Künstler im Laufe der Oper im Wahn versinkt und mehr und mehr der Figur Turandot verfällt, die nur in seinem Kopf existiert. Liú kann die Faszination nicht nachvollziehen, erkennt die Gefahr, scheint aber bisweilen seltsam gleichmütig – etwa, wenn sie sich, während Calaf im ersten Akt Turandot anhimmelt und um sie werben will, von Timur – bei Schwarz durchaus sehender und junger Freund und nicht Vater Calafs – befummeln lässt.

Turandot selbst dann erscheint in vor Symbolismen schier überquellender Kulisse, trägt – in Anspielung auf die persische Herkunft des Märchens, das später von Schiller und Gozzi nacherzählt wurde, Pfauenmotive auf dem blütenweißen Kleid mit elend langer Schleppe (herrliche Kostüme von Pascal Seibicke). Teile der Terracotta-Armee bilden die Staffage im zweiten Akt – und bleiben auch nur das, die an sich farbenfrohen, detailreich gezeichneten Kostüme aus den unterschiedlichsten asiatischen Gefilden bleiben im diffusen Licht im Dunkeln und es zeigt sich erst beim Schlussapplaus, wie schön sie sind. Turandot ist in Darmstadt hin und hergerissen und weiß selbst nicht, was sie sein will: männerhassende, verklärte Jungfrauengestalt oder aufreizende, die Männerwelt anheizende Femme fatal in schwarzen Lack-Overknee-Stiefeln, an eine Domina erinnernden Handschuhen und Make-up im Gothic-Stil. Valentin Schwarz verlangt dem Zuschauer ab, dass er sich mit dem Stück auseinandersetzt, dass er sich im Programmheft schlau liest, ehe er die zahlreichen Anspielungen vollends verstehen kann. Das ist gut gemeint und bietet dem versierten Turandot-Kenner sicher einen neuen Blickwinkel auf das Werk. Wer aber Puccinis letzte Oper gar nicht kennt, bleibt beim einen oder anderen Bild recht ratlos zurück. Wenig erhellend ist auch die Personenführung von Schwarz, besonders dann, wenn die Bühne wegen der herabgelassenen Gaze auf gefühlte 50 cm Tiefe zusammenschrumpft und die Inszenierung damit fast zur konzertanten Aufführung macht.

Gesungen wird in Darmstadt teils auf beachtlichem Niveau: Aldo di Toro ist ein von Beginn an glühender Calaf mit metallisch klingender, bombensicherer Höhe, der sich furchtlos und mit schier endlosem Atem in die Spitzentöne schmeißt und sich nicht den ganzen Abend für das Nessun dorma aufspart, das er vergleichsweise unprätentiös darbietet. Die aus Südkorea stammende Soojin Moon hat in der Titelrolle an ein, zwei Stellen mit unsicherer Intonation zu kämpfen. Die verzeihe ich ihr aber gerne, so überwältigend kalt und gleichermaßen leidenschaftlich verkörpert sie die chinesische Prinzessin, die sich selbst in einem der Rätsel als il gelo che da foco (Eis, das dich verbrennt) bezeichnet. Ping , Pang und Pong sind in Darmstadt drei eher traurige Gestalten: vom Regisseur zu Marionetten gemacht, bleiben Julian Orlishausen und David Lee auch gesanglich blass. Einzig der junge Amerikaner Michael Pegher besticht als Pong durch lebendige Rollenzeichnung, fantastische Mimik und klaren, farbenreichen Tenor. Lawrende Jordan ist ein recht altersschwach klingender Altoum, während ich mir auch vom Timur des koreanischen Basses Dong-Won Seo ein wenig mehr klangliche Wucht erhofft hätte. Ensemblemitglied Jana Baumeister hingegen legt die Liú recht kraftvoll an, ist bisweilen fordernd und energisch, dann jedoch wieder zutiefst verletzt, zart und verletzlich. So zeigt die werdende Mutter (ich wünsche schon jetzt alles Gute!) die Figur in zahlreichen, leuchtenden Facetten. Turandot wird auch als Puccinis einzige Choroper bezeichnet, so viel haben die Damen und Herren unter der Leitung von Sören Eckhoff hier zu tun – und sie meistern ihre umfangreiche Aufgabe bravourös. Im Graben schlägt Michael Nündel teils gemäßigte Tempi an und ermöglicht Puccinis Partitur so ihre volle Entfaltung. Der 1. Kapellmeister widmet sich den hymnischen, Pathos verströmenden Passagen ebenso intensiv wie den zarten, von wogenden Melodienbögen durchzogenen Teilen der Partitur und präsentiert eindreiviertel Stunden – die man in Darmstadt merkwürdigerweise vor den 25 Minuten des Rumpfaktes noch für eine Pause unterbricht – Puccini der Extraklasse. Das hört auch das zahlreich erschienene Publikum und bedankt sich bei allen Beteiligten mit begeistertem Applaus.

Ihr Jochen Rüth 08.10.2019

Die Fotos stammen von Nils Heck.