Gießen: „Il barbiere di Siviglia“

Schwindeleien, Liebe, Geldgier, Spinnen – Zutaten, die nicht nur Dank Rossinis meisterhafter Opera buffa, sondern auch durch Dominik Wilgenbus‚ Inszenierung eine dynamische Mischung ergeben. Diese Opernproduktion wird zu einem feuerwerkartigen ersten Triumph der neuen Spielzeit. Lukas Noll verwandelt den Bühnenraum des städtischen Theaters in ein Barbierwunderland mit einem zeichnerisch-exzentrischen Talent à la Tim Burton. Die Karikatur beginnt schon mit Sevilla, das im übergroßen Frisierspiegel als historisches Gießen (mit Türmchen und Stadttheater) dargestellt wird. Überall liegen riesenhaft vergrößerte Arbeitsgegenstände des Barbiers von Sevilla auf der geschwungenen Bühne verstreut.

Für den barockkundigen Taktstock des Generalmusikdirektors Michael Hofstetter, der am Premierenabend das Orchester führte, wird es die letzte Neuproduktion am Hause sein. Ein musikalisch würdevoller Abgang, möchte man da meinen. Schon in der Ouvertüre fließt die Musik mit einem voll-tönenden Orchester bis zum Beginn der Handlung in überraschender Vielfalt dahin.

Fiorello (Alexander Hajek) setzt sich vor dem Vorhang auf einen Barbiersessel und dreht sich zur Bühne, wie in einem Kinosaal, erwartungsvoll um. Er holt den Männerchor für dessen erste Nummer mit einem lauten, pfeifenden PPPPpiano auf die Bühne, und nun beginnen die Haushaltsgegenstände zu tönen. Teppichklopfer und Holzsuppenlöffel dienen Fiorello und dem Graf Almaviva, der als armer Student Lindoro verkleidet ist, als Musikinstrumente für ein leises (pianissimo) Ständchen. Die schöne Rosina soll besungen werden. Graf Almaviva (Enrico Iviglia) drückt im plakativen Wams seine Liebste an (oder besser: auf) die Brust. Diese erhört den jungen Grafen aber nicht – noch nicht. Der Graf braucht erst die klugen und erfindungsreichen Tricks des Barbiers. Für Grga Peroš als Figaro und dessen kräftigen warmen Bariton gab es nach “Largo al factotum“ die ersten begeisterten Pfiffe und Jubelapplaus aus dem Publikum.

In atemberaubendem Tempo wirbelten Serenaden, Duette, Secco-Recitativi und die facettenreichen Koloraturen des Ensembles von einem Höhepunkt zum nächsten. Der Gesang steht zwar im Zentrum der Komposition Rossinis. Gleichwohl führt er das Orchester über seine traditionelle Begleitfunktion hinaus und macht es zum theatralischen Stimmungserzeuger. Regisseur Wilgenbus setzt immer wieder musikalische Pointen, wenn er etwa Fiorello an der Gitarre heiße spanische Rhythmen spielen oder die „Pink Panther“-Melodie auf dem Cembalo im Recitativo vor der heimlichen Hochzeit von Rosina und Almaviva anklingen lässt.

Auch hat der Regisseur ein besonderes Auge auf die darstellerische Ausgestaltung der Arien. Mit Präzision bauen er und sein Assistent, Oliver Pauli, einzelne Musiknummern choreografisch genauestens aus. Wenn es allerdings um ariose Klangentfaltung ging, lässt er den Solisten und Solistinnen künstlerischen Spielraum.

So begeistert der Gießener Publikumsliebling Naroa Intxausti als Rosina . Sie interpretiert ihre Rolle als adliges Mündel des bürgerlichen Doktors Don Bartolo (Tomi Wendt) mit zarter Lyrik. Oft wird diese Partie mit einem Koloratur-Mezzo oder gar Alt besetzt, hier aber charakterisiert Naroa Intxausti perfekt die scheinbar Naive mit einer sanften lyrischen Sopranstimme. Diese kann nach Herzenlust auch an Kapriziosität gewinnen, vor allem wenn sie mit Figaro und dem Grafen Almaviva gegen ihren Vormund intrigiert. Lammfromm, fast wie eine Heilige kann sie singen, doch wenn man sie reizt, verwandelt sie sich in eine Viper. Ihre Koloraturen lassen daran keinen Zweifel aufkommen. In Rosinas Arie „Una voce poco fa“ schüttet sie ganz keck ihrer Marcelline (Heidrun Kordes) Tee über die Schürze. Auch schmuggelt sie den Brief an ihren Verehrer Lindoro mit einem Wisch ihres Hinterteils aus dem Zimmer.

Die Inszenierung bezieht ihre Energie dabei ganz aus dem Rhythmus der Partitur. Tabak wird im Takt geschnupft, eine Spinne tanzt zur Musik, und die Geschwindigkeit der Koloraturen wird bei der Arie des Bartolo an seinem Arm via Blutdruckmessgerät festgestellt. Alle Figuren werden von wunderbaren Stimmen belebt. Tomi Wendt als alten Doktor, der seinem Mündel wegen dessen Geldes avanciert, überzeugt mit klarer Stimmführung, und auch die beiden kleineren Rollen, Heidrun Kordes als Marcelline und Alexander Hajek als Fiorello verleihen mit klarer Tongebung und sichtlicher Spielfreude dem Abend Glanz.

Debüttanten am Stadttheater sind der lyrische Tenor Enrico Iviglia als Graf Almaviva, der eine sanfte Linie in den Koloraturen aufweist, allerdings in Höhenbrillanz und Piano-Momenten eher den anderen das Feld überlässt, sowie der volle, runde Bass Daniele Macciantelli als Basilio. Letzterer darf als eine Art dunkler Geselle, der das Herz und vor allem den Humor trotzdem am rechten Fleck hat, dem Spaß mit seinen prickelnden tiefen Tönen einen festen Boden verleihen.

Neben der Rosina von Naroa Intxausti glänzt vor allem das Ensemblemitglied Grga Peroš als Figaro mit warmem und jugendlich kraftvollem Bariton.

Die Inszenierung basiert neben der Leidenschaft zur Musik auch auf der zugespitzten Darstellung der teils absurden Handlungen und Verstellungen von Operncharakteren. Dominik Wilgenbus nutzt das Künstliche in der Kunst als Mittel zur Subversion. Slapstick-Nummern werden so zur modernen Fortsetzung der italienischen Volkskomödie „Commedia dell’arte“.

Die Oper, mit der Rossini vor über 200 Jahren berühmt wurde, komponierte dieser innerhalb von drei Wochen. Der Schalk musste ihm dabei im Nacken gesessen haben. Dieses enorme Arbeitstempo scheint den Regisseur inspiriert zu haben, denn seine detailgenaue Inszenierung ist schnell, bunt und hoch musikalisch. Man könnte ihn als Klamaukjäger verstehen, der aber nicht in unbedachte Affekthascherei verfällt. Jede Übersteigerung, jeder Harlekinstreich und jede Pointe sind mit der Liebe zur Musik sowie der Liebe zum Spiel verbunden. Humor mag Ansichtssache sein, die Kreativität und der Facettenreichtum von Wilgenbus‘ Opernverständnis sind es nicht!

Die Spinne wird am Ende übrigens doch noch mit einer übergroßen Spritze getötet… brrrrr.

Dominique Suhr, 16. September 2019

(c) Rolf K. Wegst