Gießen: „Linda di Chamounix“

Neueste Gießener Opernausgrabung: Eine wahrhaft glänzende Belcanto-Perle

Lieber Opernfreund-Freund,

das Stadttheater Gießen hat es sich seit ein paar Jahren mindestens einmal pro Spielzeit zur Aufgabe gemacht, in Deutschland selten bis nie gespielte Werke des 19. Jahrhunderts auf die Bühne zu bringen. Dieses Jahr wurde man beim Bergamasken Gaetano Donizetti fündig, der der Nachwelt mehr als 70 Opern hinterlassen hat, von denen die meisten davon mehr oder weniger direkt nach der Uraufführung dem Vergessen anheim fielen – manche sicher zu Recht, bei anderen ist dies hingegen kaum nachvollziehbar. Zu letzterer Kategorie gehört sicher die gestern präsentierte opera semiseriaLinda di Chamounix“, 1842 in Wien uraufgeführt, die einen wahren Strauß wunderbarer Melodien, atemberaubender Koloraturen und beeindruckender Chorszenen enthält und völlig unerklärlicherweise mehr als 100 Jahre in Deutschland nicht mehr zur Aufführung gekommen ist.

Sicher, die Geschichte ist ein wenig verworren – aber auch nicht konstruierter als beim „Trovatore“: Linda, ein Savoyardin aus armen Verhältnissen, liebt den Maler Carlo, der aber eigentlich der Sohn einer Marquise ist. Dessen Onkel möchte sie verführen und bietet deshalb den in finanzieller Not befindlichen Eltern des Mädchens Geld dafür, dass er sie als Dienstmädchen mit nach Paris nehmen darf. Der Präfekt des Ortes erkennt dies und überzeugt den Vater, die Tochter – um sie vor der Entehrung zu retten – stattdessen mit den anderen Kindern des Ortes als „Saisonarbeiter“ in die Großstadt zu schicken. In Paris offenbart Carlo Linda gegenüber seine Herkunft und bringt sie in einer feinen Wohnung unter. Seine Mutter hat in Kenntnis dessen eine Hochzeit mit einer standesgemäßen Braut anberaumt. Lindas Vater erkennt beim Besuch von Carlos Wohnung die Tochter erst nicht – und verstößt sie dann, da er der Ansicht ist, sie habe sich verkauft. Als Linda darüber hinaus von der bevorstehenden Vermählung Carlos erfährt, wird sie wahnsinnig. Im Heimatdorf bedauern alle Lindas Schicksal, von der der Wahn bei Carlos Erscheinen – der natürlich in letzter Sekunde dann doch nicht geheiratet hat – abfällt. Die Verliebten fallen sich in die Arme und träumen von einer sorgenfreien Zukunft. So weit, so operntauglich…

Hans Walter Richter und seinem Regieteam ist es bei der szenischen Umsetzung des Stoffes gelungen, einen kurzweiligen Opernabend auf die Bühne zu bringen, ohne das Stück komplett umzukrempeln oder mit der Brechstange zu modernisieren. Vielmehr gelingt es ihm, durch mehr oder weniger dezente Hinweise und Symbole Themen wie beispielsweise Bigotterie, Unterdrückung der eigenen Sexualität, Kinderarmut oder soziale Standesunterschiede in den Fokus zu rücken, ohne die Handlung in die Zeit des zweiten Weltkriegs, an die Wallstreet unserer Tage oder in den Weltraum des Jahres 2871 verlegen zu müssen. Einem Regietheater-Fan mag das zu wenig sein, ich fand es eine gelungene Gratwanderung.; lediglich bei der Interpretation Lindas als Schwangere, ist Richter ein wenig übers Ziel hinaus geschossen.

Schon ehe sich der Vorhang hebt schwebt ein beleuchtetes Kruzifix über der Szenerie, die windschief angelegt Bühne von Bernhard Niechotz, der auch für die wunderbar variantenreichen und detailverliebten Kostüme verantwortlich zeichnet, zeigt, dass in dieser Gemeinschaft offensichtlich nicht alles so im Lot ist, wie es sein sollte. Das Einheitsbühnenbild, das im zweiten Akt durch einen eingezogenen Samtvorhang zur Pariser Wohnung wird, ist eine Art Gemeindesaal voller Jagdtrophäen samt Orgel – und nach Eintreten der Katastrophe im dritten Akt reichlich derangiert.

Ja, der dritte Akt… Dramaturgisch vielleicht der schwächste der Oper, da wird es hektisch. Alle müssen nochmal auf die Bühne, jeder muss noch mindestens zwei Zeilen Solo singen, da wird’s musikalisch unübersichtlich – und szenisch auch, da die Regie dem ungebremst folgt – da hilft auch das variantenreiche Licht von Kati Moritz nicht – was aber dem Genuss von Werk und Abend keinen Abbruch tut.

Der hängt, bei allem Gewicht von Szenerie und Lesart, doch ohnehin viel mehr von den musikalisch Beteiligten ab – und hier gibt es nichts zu meckern. Ich muss regelrecht aufpassen, dass ich nicht in zu große Lobhudelei verfalle und versuche meine Begeisterung noch einmal zu bremsen:
Die bezaubernde Naroa Intxausti in der Titelpartie meistert mit ihrem hellen Sopran jede Höhe, besticht durch Charme wie durch immense stimmliche Beweglichkeit und hat wesentlichen Anteil an dem nachhaltigen Eindruck, den dieser Abend hinterlässt. An ihrer Seite glänzt Leonardo Ferrando als Carlo nach Koordinationsschwierigkeiten in der Auftrittsarie mit wunderbar metallischem Belcanto-Tenor und beeindruckenden Spitzentönen, bleibt aber darstellerisch im Vergleich zum Rest des Ensembles am farblosesten. Die Figur des Marchese ist bereits im Libretto als eine Art Karikatur des reichen adligen Verführers angelegt; Tomi Wendt setzt dies mit großem Witz und Spielfreude um, serviert bemerkenswerte Parlando-Passagen. Sofia Pavone in der Hosenrolle des Freundes Pierotto verfügt über ein weiches, anrührendes Timbre und meistert die häufigen Lagenwechsel der Partie mühelos. Der junge Rumäne Cozmin Sime verleiht der Figur von Lindas Vater mit facettenreichem Bariton und überzeugendem Spiel Profil. Calin Valentin Cozmas Bass ist wie gemacht für die dunklen Ahnungen und Drohungen des Präfekten. Michaela Wehrum als Lindas Mutter und Vepkhia Tsiklauri als Intendente komplettieren das glänzend disponierte Ensemble. Der von Jan Hoffmann einstudierte Chor agiert koordiniert und harmonisch, singt beeindruckend, der Kinder- und Jugendchor – von Martin Gärtne r betreut – setzt tolle Akzente.

Das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Florian Ziemen präsentiert die Partitur herrlich beschwingt, die halsbrecherischen Läufe in allen Stimmen gelingen ebenso imposant wie die anrührenden Momente und bereits am Premierenabend herrscht ein harmonisches Zusammenspiel zwischen Bühne und Graben.

Am Ende gibt’s einhelligen und nicht enden wollenden Applaus für alle Beteiligten – Gießen hat da augenscheinlich nicht nur eine Perle gefunden, sondern diese auch noch trefflich aufpoliert.

Fazit: Eigentlich müsste ich jedem, den ich kenne, empfehlen, nach Gießen zu reisen, um diese wunderbar glänzende Belcanto-Perle zu erleben, die vor allem in musikalische Hinsicht restlos beglückt – hätte dann aber Angst, dass ich selbst kein Ticket mehr bekomme, wenn ich mir noch eine Aufführung anschauen möchte. Oder zwei. Deshalb empfehle ich es nur Ihnen.

Ihr Jochen Rüth aus Köln 1.2.15