Gießen: „Mirandolina“, Bohuslav Martinů

Besuchte Aufführung: 6. 7. 2014 (Premiere: 30. 3. 2014)

Surrealismus, Freud’sche Zwangshandlungen und Brechungen

Bilder: Rolf K. Wengst

Vor gerade mal zwölf Jahren ist im irländischen Wexford ein recht bemerkenswertes Werk reaktiviert worden: Bohuslav Martinus Oper „Mirandolina“, die der Komponist in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben und dazu auch das italienische Textbuch selbst verfasst hat. Dieses stellt indes nicht gerade einen Geniestreich dar. Bereits emigriert, war es Martinu verwehrt, die Prager Uraufführung des Werkes im Jahre 1959 mitzuerleben. Nach der Aufführung im Münchner Cuvilliéstheater Ende April konnte man dieses reizvolle Stück der neuren Opernliteratur nun auch am Theater Gießen erleben. Dabei handelte es sich um die erstmalige Präsentation der italienischen Original-Vision.

Martinus Oper zugrunde liegt das 1753 aus der Taufe gehobene Stück „La Locandiera“ – die deutsche Übersetzung lautet „Die Wirtin“ – aus der Feder Carlo Goldonis. Bereits früh haben diverse Tonsetzer die enorme Eignung des Stoffes für eine Vertonung erkannt. Im Laufe der Zeit sind insgesamt sechs Opern entstanden, die auf Goldonis Stück Bezug nehmen. Die jüngste und vom ihrem musikalischen Gehalt her ergiebigste ist die von Martinu. Wenn man seine Vertonung der „Mirandolina“ anhört, kommt man gar nicht auf den Gedanken, es hier mit einem modernen Erzeugnis des Musiktheaters zu tun zu haben. Das musikalische Stilgemisch, mit dem der Komponist hier aufwartet, reicht weit in die Vergangenheit zurück. Hierbei handelt es sich eigentlich um eine typische italienische Belcanto-Oper, bei der der Einfluss so mancher anderer Tonsetzer geradezu ins Auge springt. So schimmert beispielsweise Mozart durch, die groß angelegten Ensembles gemahnen stark an Rossini und sogar die Tonsprache eines Smetana wird merkbar. Eine rudimentär vorhandene Leitmotivtechnik weist auf Richard Wagner hin. Neben solchen klassischen Klängen lässt Martinu aber auch Jazz-Töne in seine Partitur einfließen, womit er der Entstehungszeit der „Mirandolina“ huldigt. Die unterschiedlichen musikalischen Elemente werden zum großen Teil ohne große Übergänge und zudem ziemlich abrupt aneinandergereiht.

In szenischer Hinsicht hatte die Gießener gegenüber der etwas belanglosen und letztlich nicht gerade originellen Produktion am Münchner Cuvilliéstheater eindeutig die Nase vorn. Die Inszenierung von Andriy Zholdak genießt einen schlechten Ruf. Was der ukrainische Regisseur hier auf die Bühne des Theaters Gießen gebracht hat, war aber aufregendes, modernes Musiktheater mit tiefenpsychologischen Elementen. Nicht als Komödie hat Zholdak die „Mirandolina“ auf die Bühne gebracht, sondern unter mannigfaltiger Einbeziehung Brecht’scher Elemente, des politischen und insbesondere des Absurden Theaters sowie interessanter psychoanalytischer Aspekte als bitterböse Gesellschaftssatire.

Es ist keine einheitliche Welt, die der Regisseur zusammen mit Bühnenbildner Lukas Noll, der auch die aus unserer Zeit stammenden Kostüme kreierte, auf die karg und nüchtern anmutende, stets dunkel ausgeleuchtete Bühne bringt, sondern eine in vielerlei Hinsicht gespaltene. Das beginnt schon bei der sich vor dem eisernen Vorhang auf der schmalen Vorderbühne abspielenden Handlung, die ständig durch Video-Projektionen der beiden Seitenbühnen auf seitlich angebrachte Leinwände – auf ihnen sieht man die Darsteller auf ihren Auftritt warten – eine Ergänzung erfährt. Der schöne Schein des Theaters erfährt dadurch gekonnt eine profane Brechung. Die Privatsphäre der Beteiligten und die Bühne fügen sich zu einer Symbiose zusammen, die Shakespeares Postulat „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Männer und Frauen bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab“ voll und ganz entspricht. Entsprechend dem streng religiösen Umfeld, dem Zholdak entstammt, frönen die Beteiligten einem überzogen wirkenden Katholozismus. Im Hintergrund sieht man ein Bild der Madonna, das den ganzen Nachmittag über präsent bleibt und im Schlussakt zunehmend größer wird. Immer wieder kommt es zu symbolischen Kreuzungen eines Jesus-Imitators und zweier leicht bekleideter Mädchen, die beide offenbar in einer lesbischen Beziehung zu ihrer Chefin Mirandolina stehen. Eines davon scheint im Vorfeld zudem echten Misshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein: es hinkt. Die ständigen Waschungen und das Abknutschen dieser allegorischen Figuren zeugen von einem überbordeten religiösen Eifer der Handlungsträger, der letztlich Sottise bleibt. Dieser aufgezeigte religiöse Wahnwitz erfährt im dritten Akt durch das Hereinbrechen der zeitgenössischen Politik ebenfalls eine heitere ironische Brechung. An einem breiten Konferenztisch werden die privaten Konflikte der Protagonisten kurzerhand zur Weltpolitik erhoben und unter dem Bild von Angela Merkel abgehandelt. Wohl die Jungfrau Maria anbetend, deren neben ihr aufgehängtes Bild jetzt ins Zentrum gerückt ist, scheint die evangelische Kanzlerin hier gerade zum Katholizismus zu konvertieren.

Es ist kein positives Bild, das die Regie hier von den beteiligten Personen zeichnet und das Ganze zu einer recht rigiden Sozial- und Gemeinschaftsstudie umdeutet, wobei mit harscher Kritik nicht gespart wird. Die Männerwelt ist ein ziemlich gewaltbereiter Haufen bornierter Lüstlinge, und anhand der Frauen wird das Prinzip von Heilige und Hure trefflich abgehandelt. Dabei werden durchweg die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Surrealität, Wachen und Träumen überschritten, was sich in auf den ersten Blick reichlich unlogischen Handlungen äußert, so beispielsweise, wenn ein Engelsmädchen mit einer Pistole den Marchese und seinen Diener ohne ersichtlichen Grund gleich mehrfach erschießt, diese aber immer wieder aufstehen. Aber, wie gesagt, nur auf den ersten Blick. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass sich ständig zwei Ebenen überlappen: eine tatsächliche und eine irreale. Derartige Bilder sind keinesfalls als der Realität verhaftet aufzufassen, sondern als Ausgeburten einer überwuchernden Phantasie, wie man sie in ähnlich grotesk zugespitzter Form insbesondere in den Stücken eines Ionesco und eines Beckett beobachten kann, deren Verwerfung der klassischen Theaterstrukturen und Hinwendung zum Absurden Theater Zholdak begierig aufgreift, wenn er derart widersinnige Szenarien entwirft und recht paradoxe Handlungen miteinander verknüpft.

Die innovative Durchdringung des Werkes wird gekrönt durch die Einbeziehung der Lehren eines Sigmund Freud. Anhand des ständig die verschiedensten Requisiten über die Bühne tragenden Hausmeisters, der sich am laufenden Band zuerst die Brille zurechtrückt und anschließend über seinen Oberlippenbart streicht, wird vom Regisseur einfühlsam vorgeführt, was eine Zwangshandlung oder -neurose ist. Die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens sind mannigfaltig. Dass die Optionen dazu noch lange nicht ausgeschöpft sind, wird am Ende deutlich, an dem sich die Rückwand endlich öffnet und der Hausmeister den weiblichen Engel in die Weite der Hinterbühne als noch zu ergründender Ort der unbegrenzten Möglichkeiten entführt.

Zholdak hat in dem spielfreudigen Ensemble kollegiale Partner/innen gefunden. An erster Stelle ist hier Gastsängerin Francesca Lombardi Mazzulli zu nennen, die darstellerisch eine hoch erotische, verführerische und leidenschaftliche Mirandolina war. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem sinnlichen, bestens gestützten Sopran voll zu überzeugen. Eine Glanzleistung erbrachte ebenfalls Calin Valentin Cozma, der mit hervorragend fokussiertem, sonorem und klangvollem Bass dem Marchese Forlimpopoli mehr als gerecht wurde. Eric Laporte sang den Conte Albafiorita mit recht variablem Stimmsitz. In der Mittellage über eine gute Stütze verfügend, ging er in der Höhe oft vom Körper weg. Noch nicht völlig ausgereift war der Bariton von Tomi Wendt, der als Cavaliere Ripafratta mit überhaupt nicht italienisch anmutender, flacher und halsiger Tongebung nicht überzeugen konnte. Auch der an sich gefällige Tenor von Ralf Simon hätte besser im Körper verankert sein können. Von den beiden Komödiantinnen war die über einen vollen, runden Mezzosopran verfügende Stine Marie Fischer (Dejanira) ihrer allenfalls solide intonierenden Soprankollegin Naroa Intxausti (Hortensia) überlegen. Die Statisten Myriel Bischoff, Theresa Gehring (Zwei Dienstmädchen), Jemina Coletta (Engel), Klaus Peter Unfried (Alter Mann) und Florian Moll, Glenn Buchholtz (Jünglinge) machten ihre Sache vortrefflich.

Am Pult besann sich GMD Michael Hofstetter ganz auf das Vorbild Rossinis und animierte das beherzt aufspielende Philharmonische Orchester Gießen zu einer mitreißenden, fetzigen und temperamentvollen Wiedergabe von Martinus Partitur. Bemerkenswert war insbesondere, mit welcher Brillanz die Musiker die komplizierte Rhythmik meisterten, obwohl sie es schon wegen der vom Dirigenten angeschlagenen recht rasanten Tempi nicht gerade leicht hatten.

Ludwig Steinbach, 7. 7. 2014
Die Bilder stammen von Rolf K. Wegst.