Besuchte Vorstellung am 8. Januar 2022 (Premiere am 18. Dezember 2021)
Gute Gelegenheit zum Kennenlernen eines vergessenen Werkes
Ist Voltaire schuld, daß Vincenzo Bellini einen seiner größten Mißerfolge erleiden mußte? Das Libretto zu der Oper Zaira folgt einer Tragödie des französischen Aufklärers, die seinerzeit ein vielgespieltes Repertoirestück auf den Spielplänen gerade auch italienischer Theater war. Die Geschichte nimmt das damals beliebte Kreuzfahrersujet auf: Jerusalem ist von den Muslimen zurückerobert worden, die christliche Bevölkerung wird zunächst versklavt, der edle Sultan aber will die Christin Zaira heiraten und läßt die gefangengenommenen Kreuzritter samt deren König frei. Überraschender Weise stellt sich Zaira als verschollene Tochter des Kreuzfahrerkönigs heraus. Obendrein entpuppt sich ein junger Mann, auf den Zaira einst ein Auge geworfen hatte, als ihr leiblicher Bruder. Dieser ist ein christlicher Eiferer, der die Hochzeit der Schwester mit einem Muslim verhindern will. Das trifft sich mit den Absichten des Wesirs, der gegen die geplante Verbindung des Sultans mit einer Ungläubigen intrigiert. Der eifernde Bruder will Zaira zur Flucht bewegen, übersendet ihr dazu einen Brief, welcher abgefangen wird und vom Sultan ohne Kenntnis des Inhalts für einen Liebesbrief an die vermeintlich untreue Braut gehalten wird. Er überrascht Zaira bei einem nächtlichen Treffen mit ihrem Bruder und ersticht sie aus Eifersucht.
Naroa Intxausti in der Titelpartie
Das ist der übliche italienische Libretto-Standard des 18. und 19. Jahrhunderts mit seinen absurd unglaubwürdigen Wiedererkennenungsszenen („O, mein Vater!“ „O, meine Tochter!“) und konstruierten Verwechslungen. Selten darf dabei ein Brief mit Einladung zu einem nächtlichen Stelldichein fehlen (man denke nur an Mozarts Figaro oder Verdis Don Carlo). Das Ganze wird hier angereichert mit orientalischem Flair und einem edelmütigen Sultan. Die Entführung aus dem Serail läßt grüßen. Auch die Urheberschaft von Voltaire macht diese Ansammlung von Klischees zu keinem Geniestreich. Der französische Philosoph darf in der Gießener Inszenierung aber als Stabpuppe auftreten und das Geschehen zwischen den Szenen kommentieren. Es werden dann Auszüge aus Originaltexten Voltaires in französischer Sprache über Lautsprecher eingespielt und in deutscher Übersetzung als Text auf die Bühnenwände projiziert. Das ist eine hübsche Idee zur Einordnung und intellektuellen Überhöhung, ändert aber nichts an dem Eindruck, daß Voltaire als Dramatiker nicht überschätzt werden sollte und zu Recht in Vergessenheit geraten ist, denn – Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt ein Drama von Voltaire auf einer Bühne gesehen?
Gleichwohl, Verdi hat weitaus krudere Textvorlagen mit Erfolg vertont, man denke nur an den Troubadour. Dabei fehlt es der Partitur von Zaira nicht an gut gemachten Duetten, Ensembles und Chorszenen. Einige der Nummern hat Bellini später in anderen, erfolgreicheren Opern wiederverwendet. Der Mißerfolg des Stückes, der seit seiner Uraufführung bis heute anhält, liegt wohl eher in einer unglücklichen Dramaturgie, die für das Liebespaar die sehr ungewöhnliche Kombination Sopran (Zaira) und Baßbariton (Sultan) vornimmt, dem Tenor (Wesir) zwar eine bravouröse Auftrittsarie gönnt, ihn dann aber ins Abseits stellt, und die wirkungsvollsten Duette für Sopran (Zaira) und Mezzo (ihrem Bruder in einer Hosenrolle) reserviert, die ihrerseits ein prima Liebespaar abgäben, aber leider Geschwister sind.
Kein Liebespaar: Na’ama Goldman (Nerestano) und Naroa Intxausti (Zaira)
Musikalisch wartet die Gießener Produktion mit einem Coup auf: Der vormalige Generalmusikdirektor Herbert Gietzen hat für die beschränkten Verhältnisse des kleinen Orchestergrabens (und wohl auch im Hinblick auf Abstandsgebote angesichts der Corona-Pandemie) eine Kammermusikfassung für dreizehn Instrumente erstellt. Das harmonische Grundgerüst, welches bei Belcanto-Opern meist auf dem Repetieren gebrochener Akkorde beruht, ist einem Klavier und einem Harmonium anvertraut, zu denen an einigen Stellen noch eine Harfe aparte Klangfarben beisteuert. Die übrigen Instrumente, Streicher wie Holzbläser und Horn, sind solistisch besetzt, das schwere Blech wurde eliminiert, und im Schlagzeug sorgen Trommeln, Tamburin und Triangel für orientalisches Kolorit (oder was man sich in Europa seinerzeit darunter vorstellte). Das wird von den Gießener Musikern unter der musikalischen Leitung von Jan Hoffmann mit frischer Lebendigkeit, schön ausgespielten Instrumentalsoli und überraschender Klangfülle umgesetzt.
Der reduzierte Orchesterapparat erweist sich als sehr sängerfreundlich. So kann Naroa Intxausti in der Titelpartie ihre Qualitäten ausspielen. Die langjährige Gießener Stammsängerin verfügt über einen schlanken, hellen, fast silbrigen Sopran, der sie für quirlige Soubretten-Rollen prädestiniert. Die Zaira erfordert an sich eine üppigere, zu dramatischen Weiterungen fähige Stimme. Unter den Verhältnissen des intimen Theatersaals erweist sich aber die Wendigkeit der Intxausti als Vorzug. Mühelos präsentiert sie Koloraturen und Verzierungen. Ihr leichtes, schwebendes Piano füllt den Gießener Zuschauerraum mühelos und weiß zu berühren. Hier hat sie ihre stärksten Momente. Ausgezeichnet fügt sich ihre Stimme zudem in die Duette und Ensembles ein. Lediglich dann, wenn sie zu dramatischer Emphase ausholt, neigt sie zum starken Tremolieren. Als ihr (zunächst unerkannter) Bruder Nerestano überzeugt Na’ama Goldman mit satten und dunklen Mezzotönen. Sie bleibt der Partie nichts an dramatischer Glut schuldig, ist als junger Mann stimmlich wie optisch glaubhaft und überrascht immer wieder damit, wie souverän und unangestrengt sie auch ihre Höhenlage präsentieren kann.
Leonardo Ferrando (Wesir) und Marcell Bakonyi (Sultan)
Sehr rollenadäquat gibt Marcell Bakonyi den Sultan Orosmane. Sein kerniger, aber schlanker Bariton paßt hervorragend zu einem noch jungen Herrscher. Daß Bellini für den Wesir Corasmino keine größeren Aufgaben vorgesehen hat, ist ein Jammer, denn Leonardo Ferrando ist ein nahezu idealer Belcanto-Tenor. Seine gut sitzende Stimme ist attraktiv gefärbt, hell zwar aber mit virilem Kern, und erweist sich als koloraturensicher. Unerschrocken attackiert er die belcanto-typischen Höhen und wäre perfekt für eine Rolle als Liebhaber, wenn das Libretto ihn nicht zunächst als durchtriebenen Bösewicht einführen würde, um ihn anschließend aufs Abstellgleis zu schieben. Die übrige Besetzung, Stichwortgeber zumeist, fällt nicht hinter die Protagonisten zurück. Auch der Chor bleibt mit homogenem Klang in angenehmer Erinnerung.
Die Regie von Dominik Wilgenbus widersteht der Versuchung, den Konflikt von Islam und Christentum und die Verortung des Geschehens im Nahen Osten zur Ausrede für politische Stellungnahmen, Aktualisierungen oder Überschreibungen zu nutzen. Sie unternimmt nichts weiter, als die vorgesehene Handlung plausibel zu arrangieren. Das ist bei unbekannten Stücken für das Publikum hilfreich. Die szenischen Möglichkeiten steckt das Bühnenbild von Lukas Noll ab mit vier neben- und übereinander gestellten kleinen Räumen nach Art eines Setzkastens. Das ermöglicht fließende Szenenwechsel und Parallelaktionen. Christliches und Muslimisches ist teils baulich etwa mit einem angedeuteten Kreuzrippengewölbe, überwiegend aber mit Projektionen jeweils typischer Architektur und Symbole präsent. Die ebenfalls von Noll entworfenen Kostüme mischen phantasievoll, aber dezent historische Kleidungsstile mit aktualisierender Ausführung. Die Männer tragen moderne Anzughosen, welche aber bei den Muslimen mit orientalisierten, mitunter verzierten Gehröcken, dazu Turbanen und bei den christlichen Kreuzrittern mit Andeutungen von Rüstungen mittels Schulteraufsätzen kombiniert werden. Die Damen werden als Angehörige des Harems in Schleier gekleidet wie aus einem Bilderbuch zu Tausendundeine Nacht.
Die Produktion ist gut geeignet, um das vergessene Werk kennenzulernen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es dem kleinen Gießener Haus gelingt, adäquate, zum Teil sogar bemerkenswerte Besetzungen zusammenzustellen. Die Gesangsleistungen machen den Abend im Verbund mit der engagierten Leistung des Orchesters, dessen Mitglieder sich hier allesamt solistisch bewähren, zu einer runden Sache.
Weitere Vorstellungen gibt es am 29. Januar, 3. Februar sowie am 6. und 27. März.
Michael Demel / 20.01.2022
© der Bilder: Rolf K. Wegst