Hannover: „Der Freischütz“

Vorstellung am 17. Dezember 2015

„Montage der Attraktionen“

„Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste“ – doch, wie man zähneknirschend feststellen muss: So dumm ist Kay Voges Inszenierung des „Freischütz“ gar nicht. Zumindest folgt sie einem berühmten künstlerischen Konzept.

Kay Voges, so mein gestriger Eindruck, geht jedoch auf Nummer sicher und macht die Bühne zum multimedialen Müllraum, in dem sich das Geschehen im Big-Brother-Container abspielt, quasi als „Okidoki“ gelabeltes Dschungelcamp der Hochkultur. Nichts ist hier privat, aber die an die Öffentlichkeit in Video-Großaufnahme gezerrten primären Geschlechtsmerkmale und andere Unappetitlichkeiten sind eben auch alles andere als politisch, nicht einmal Op, Pop, geschweige denn Flower, sondern einfach nur Bad Taste. Mängel in der Ästhetik allerdings sind, anders als jene in Bildung oder Benehmen, irreparabel.

Ich wollte es mir sparen, auf Näheres einzugehen. Der Verdacht nämlich liegt nahe, dass diese Inszenierung lediglich eine Marketingmaßnahme der Staatsoper Hannover ist. Was schade wäre, denn sie bringt sehr gute Produktionen am laufenden Band, zuletzt „Candide“, ihr „Werther“ ist besser als „Mad Men“. Inszenierungen dieser Art – höchst geistreich und respektvoll aktualisiert – finden allerdings nur vergleichsweise bescheidene Medienresonanz. Analog gilt dies übrigens auch für Rezensionen. Der brüllend komische Verriss erhält Klickzahlen und Aufmerksamkeit, nicht die positive Kritik. Insofern bedienen Skandal-Inszenierungen nicht nur die Interessen ihrer Regisseure, sondern auch die der Kritiker. Es hat daher durchaus Berechtigung, den Kultur- und Medienbetrieb mit dem Begriff „Zirkus“ zu versehen. Die Botschaft liegt auf der formalen Ebene

In meiner Aufzählung, was diese Inszenierung alles nicht ist, fehlt übrigens Agitprop. Das nämlich, fiel mir nachträglich ein, könnte sie zumindest sein. Ein zentraler Begriff aus der kommunistischen politischen Werbung seit Lenin. Damit allerdings würde sich der Regisseur als ziemlich gestrig outen. Dies auch in einem anderen Detail: Als Max im ersten Akt eine Taube schießt, trifft er in dieser Inszenierung eine kinderwagenschiebende Muslima. Auf der Video-Leinwand rechts von ihr spielt sich dazu eine legendäre Stummfilmszene ab: Ein leerer Kinderwagen holpert eine prachtvolle breite Steintreppe hinab. Ein Ausschnitt des „vierten Akts“ von „Panzerkreuzer Potemkin“.

Das passt insofern zum „Freischütz“, als dass auch in Eisensteins Film die Masse Hauptprotagonist ist und ihr Aufstand – in diesem Fall die Revolution von 1905 – thematisiert wird. In diesem kurzen Moment jedoch liegt weitaus mehr – nämlich der Generalschlüssel zum Verständnis der ganzen Inszenierung. Ihre Botschaft liegt nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der formalen Ebene. Wer jedoch kennt heute noch den Namen, die Arbeitsweise und die Theorien des russischen Regisseurs? Hierin liegt tatsächlich ein entscheidendes Manko der Produktion.

Eisenstein begann nicht beim Film – sondern beim Theater. Seine Inszenierung von Ostrowskis „Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste“ ist wie folgt charakterisiert: „Die verschiedenen Handlungslinien des Stücks ließ er gleichzeitig ein einer ‚Manege’ und auf einem erhöhten Podium ablaufen; plötzliche Brüche im Dialog leiteten von einem Schauplatz zum anderen über. Außerdem orientierte Eisenstein sich am Zirkus (sic!, Anmerkung der Autorin). Schließlich explodierten Feuerwerkskörper unter den Sitzen des Publikums.“ (Gregor/Patalas, Geschichte des Films, Band 1, S. 103 ff)

In Voges Inszenierung explodieren Knallkörper nicht im Zuschauerraum, sondern auf der Bühne, gleich nach Ende der Ouvertüre. Die sich dem Publikum dann eröffnende gesamte Szenerie ist eine „Montage der Attraktionen“. Unter dem Begriff „Attraktionen“ versteht Eisenstein in seiner 1923 entwickelten Theorie „jedes attraktive theatralische Moment, jedes Element, das die Gedanken und die Psyche des Zuschauers beeinflusst“. Gregor/Patalas sprechen von „mathematisch berechneten Attraktionen“, mit denen Eisenstein den Zuschauer „wachrütteln und ihn auf den Weg des Erkennens“ führen wollte.

Man kann das mögen oder eben auch nicht. Auf jeden Fall jedoch muss man anerkennen: Kay Voges hat ein künstlerisches Konzept in seiner Inszenierung verfolgt – zumal eines, das aufgrund der heutigen medialen Reizüberflutung und des Multitaskings verblüffend aktuell ist, den Rezeptionsgewohnheiten der Moderne sehr entgegenkommt und sie zugleich in Frage stellt.

Die Fokussierung auf die sexuelle Bedeutungsebene, obwohl aus dem Stoff herauslesbar, führt dagegen eher ab vom eigentlichen, politischen Kern der „deutschen Nationaloper“. Zwar fußt „Der Freischütz“ ursprünglich auf Gespenstergeschichten und Schauermärchen. Diese Welt wiederum verbinden wir bis heute vor allem mit den Grimm’schen Märchensammlungen. Weniger bekannt dürfte sein, dass die Gebrüder Grimm ihr literarisches Vorhaben in einem höchst politischen Rahmen vorstellten, wo es allerdings auf wenig Interesse stieß: 1805 beim Wiener Kongress, der Geburtsstunde des Deutschen Bundes. Eines ihrer Märchen, „Schneewittchen“ (1812), ist zentral geprägt von drei Farben: Schwarz, Weiß und Rot – mithin den Farben der Nationalflagge des Deutschen Reichs und jener des Nationalsozialismus. Wenn sich Agathe als „Schneewittchen“ in Voges Inszenierung buchstäblich in braunem Sumpf wälzt, ist dies, so unschön es aussieht, durchaus als politisches Statement begreifbar.

Sogar der Begriff „Okidoki“ ließe sich politisch ausschlachten. Das zur gleichnamigen Kinderfernsehserie des ORF 1 gehörige Maskottchen ist ein lilafarbenes Wildschwein, das „Franz Ferdinand“ heißt. Der mit diesem Namen assoziierbare, in Sarajewo ermordete Thronfolger der Habsburger wiederum war mehr als nur ein guter Jäger: Zu seiner „dunklen Charaktereigenschaft“ gehörte das bei diesen Gelegenheiten passionierte, regelrecht massenhafte Abschlachten von Tieren, ebenso ein religiös übersteigertes politisches „Sendungsbewusstsein“.

Fraglich bleibt dennoch, ob all diese Bedeutungsaufladungen, für die der Regisseur dem Zuschauer mit seiner provokanten „Collage“ einen Freiraum bieten will, auf tiefergehende „Wege des Erkennens“ führen – zum Beispiel den fundierten Vergleich zwischen der politischen und ökonomischen Situation des Deutschen Reichs im Laufe des 19. Jahrhunderts und jener der heutigen Bundesrepublik. Eine solche Betrachtung hätte nämlich zum Ergebnis, dass die „German Angst“, an der die Deutschen auch nach Gründung des lang ersehnten Nationalstaats angeblich immer leiden würden, inzwischen vollkommen unbegründet ist.

Eindeutig intendiert scheint jedoch nur der Rückbezug auf Eisenstein und seinen bekanntesten Film: Nur so erschließt sich die ganze Problematik des „Künstlerdramas“, das der Regisseur bei vordergründiger Betrachtung dem Werk „übergestülpt“ hat (eine Maßnahme, die im Programmheft legitimiert wird durch einen Text von Schlegel). In Deutschland nämlich wurde „Panzerkreuzer Potemkin“ auf Betreiben der Reichswehr zu Zeiten der Weimarer Republik zweimal verboten „und erst nach massiven Protesten der Öffentlichkeit – denen sich Persönlichkeiten wie Feuchtwanger, Klabund, Liebermann, Zille, Jeßner und Kerr anschlossen – in einer verstümmelten Fassung mit abschwächenden Zwischentiteln zur Aufführung freigegeben.“ (Gregor/Patalas, a.a.O.) Der eindringliche Hinweis auf die Freiheit der Kunst, mit dem Dramaturg Klaus Angermann seinen Einführungsvortrag eröffnete, ist daher kein billiges Exkulpationsmanöver, mit der eine auf den ersten Blick verunglückte, zumindest höchst fragwürdige Inszenierung gerechtfertigt werden soll.

Sogar das von Generalmusikdirektorin Karen Kamensek hochgehaltene Schild „Ich distanziere mich von dieser Szene“ könnte Teil des Inszenierungskonzepts sein. Es wäre deshalb zu hoffen für die Regie, weil die Diffamierung einer Person für eine – überdies aus dem Zusammenhang gerissene – Äußerung eben zu jenen Methoden zählt, die in den unrühmlichsten Zeiten der deutschen Vergangenheit an der Tagesordnung waren.

Natürlich ist dies keinesfalls die einzige Stelle, an der Kamensek mit Verve für die Komposition Partei ergreift, deren Widersprüchlichkeiten und kontrastreiche Klangschattierungen sie souverän herausarbeitet. Dank ihr, der hervorragenden Solisten, die auch in abstrusesten Bühnenmomenten bewundernswerte gesangliche Leistung bieten (in den Hauptrollen Eric Laporte als Max, Dorothea Maria Marx als Agathe, Ania Vergy als Ännchen, Tobias Schabel als Kaspar), einem buchstäblich starken Chor und den bestens miteinander harmonierenden Musikern des Niedersächsischen Staatsorchester Hannover gibt es in diesem „Freischütz“ einen unbestreitbaren Sieger: Webers Musik.

Christa Habicht 17. Dezember 2015

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