Hannover: „Der Freischütz“

Premiere am 12. Dezember 2015

Eine Werkszertrümmerung

Eric Laporte

Was der Dortmunder Schauspiel-Chef Kay Voges dem Publikum in seiner Neuinszenierung der „deutschen Nationaloper“ zumutet, ist schon stark. Das beginnt schon mit dem ersten Blick ins Programmheft, wo die kurze Inhaltsangabe mit der Überschrift „Samiel versucht sich an einer deutschen Nationaloper“ versehen ist. Dem Interview mit dem Regisseur, der sich mit dem „Freischütz“ nach seinem spektakulären Opern-Debüt im Dezember 2013 mit „Tannhäuser“ zum zweiten Mal an einer Oper versucht, kann man entnehmen, dass er mit seiner „Inszenierung die Brüchigkeit der“ Vorlage „verstärken und sichtbar machen“ wolle und dass „das nichts mit Werkzertrümmerung zu tun“ habe.

Das kann man auch ganz anders sehen. Wenn nämlich wie hier die Musiknummern in einen anderen Textzusammenhang gestellt werden und die komponierte Musik zwar vollständig erklingt, aber öfter im Ablauf unterbrochen wird, so ist das sehr wohl eine Werkzertrümmerung, wenn auch eine sehr subtile. Bisher konnte man ja noch hoffen, dass die Oper davon anders als die Schauspiel-Klassiker verschont bleibt. Aber nun der Reihe nach:

Vor der Ouvertüre tritt Samiel, ein abgrundtief hässlicher Gnom mit gewaltiger Knubbelnase und übergroßen Ohren und Händen, eine Art Außerirdischer, vor den Vorhang und schwadroniert lispelnd mit nur teilweise verständlichen Worten über die „Deutsche Nationaloper“, bis er der Dirigentin mit den bei der amerikanischen Jugend und allmählich auch bei uns üblichen Worten „OkiDoki“ das Zeichen zum Anfang gibt. Zur unter der präzisen Leitung von Karen Kamensek glänzend musizierten Ouvertüre gibt es auf dem Zwischenvorhang ein Video, das Samiel zeigt, wie er durch eine Art Museum geht und sich Bilder von deutschen Persönlichkeiten von den Gebrüdern Grimm über Friedrich Nietzsche, Richard Wagner bis zu Konrad Adenauer u.a. ansieht. Am Schluss gibt es eine Fülle von sich rasant überschneidenden Fernsehbildern mit dem französischen Staatspräsidenten nach den Pariser Anschlägen, dem bayrischen Minister Söder, Flüchtlingen, dabei auch der an den italienischen Strand gespülte tote Junge und vieles mehr aus der aktuellen Situation.

Wenn der Zwischenvorhang hochgeht, blickt man auf eine Art Gaststätte, in deren Carport ein VW-Käfer, auch so ein deutsches Symbol, steht und an die sich darüber rechts ein Bordell anschließt (Bühnenbild: Daniel Roskamp). Die Dachterrasse ist mit den Leuchtschriften „OkiDoki“ und „Love-Ranch“ versehen. Nun kommen die beiden Kameramänner in Einsatz, die das Geschehen im Innern des Lokals filmen; dies wird auf zwei mittelgroßen Leinwänden gezeigt, die auf den uns zur Verfügung gestellten Plätzen nur halb zu sehen waren. Eine kleinere Leinwand ist für Statistiken (Aufzählung der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte) und Merksätze (z.B. „Deutsche Waffen. Deutsches Geld“ oder „Unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt“) vorgesehen. Die Masche mit den vielen Videos simultan zur Handlung auf der Bühne kennt man schon von Castorfs „Ring“-Verunstaltung in Bayreuth; diese Reiz-Überflutung erhellt die Absichten des Regisseurs auch nicht weiter.

Auf der Bühne tummeln sich so allerlei märchenhafte und auch reale Figuren wie einige Neo-Nazis mit Springerstiefeln und Glatzen, die sieben Zwerge (später sehen wir Agathe als Schneewittchen), ein riesiger Plüsch-Teddy und natürlich auch der Weihnachtsmann (Kostüme: Mona Ulrich). Es beginnt nun damit, dass, wie es in der Inhaltsangabe zu lesen ist, Max nicht mehr den Beweis seiner Männlichkeit erbringen kann, und dafür von Kilian (stimmlich brav Byung Kweon Jun) und den Glatzen Schläge mit dem Baseball-Schläger bekommt. Überhaupt ist Max offenbar stark Penis-bestimmt, was man seinen Ausrufen „Penis“ an unpassenden Stellen entnehmen kann.

Stefan Adam / Eric Laporte / Michael Dries

Es gibt noch weitere Beispiele der Werkzertrümmerung: Beim Schuss im ersten Akt, mit dem Max im Original einen Adler vom Himmel holt, wird eine Muslima tödlich getroffen, die rechtzeitig mit ihrem Kinderwagen auf der Szene erschienen ist (Kommentar Kaspar: „Ein guter Schuss.“). Die anschließende Arie des Kaspar „Schweig! Schweig!“ bekommt einen völlig anderen Sinn, wenn er das Baby aus dem Kinderwagen nimmt und es schaukelnd zu beruhigen versucht. Im 2. Akt erleben wir Agathe und Ännchen, wie Zwillinge in schwarz-rot-goldene Kleider gesteckt, wie sie beide Max an die Wäsche wollen; im Finale wird dann auch ein „flotter Dreier“ angedeutet. Zum Duett „Grillen sind mir böse Gäste“ gibt es auf einer der Leinwände eine Grille in Schwarz-Weiß bei der Arbeit zu sehen. Die Wolfsschlucht ist vergleichsweise unspektakulär, wenn man von alptraumartigen Figuren und der „Nackten vom Dienst“ absieht. Samiel wütet gleichzeitig in seinem Zimmer mit Farbklechsereien und tobt unbeschreiblich herum (akrobatisch die Dortmunder Schauspielerin Eva Verena Müller).

Eva Verena Müller

Im 3. Akt gibt es zu Beginn zur Arie der Agathe „Wie nahte mir der Schlummer“ und zu Ännchens Ballade vom Kettenhund zwei Videos, die wohl Alpträume der Frauen zeigen sollten; Titel: „Deutsches Nachtgespenst Teil 1 und 2“. Besonders geschmacklos war Agathes Alptraum, wenn sie sich als vergiftetes Schneewittchen von ihrer Totenbahre erhebt und sich im weißen Nachthemd in menschlichen(?) Exkrementen wälzt. Vor der Szene mit den Brautjungfern gibt es ein kurzes Interview mit Christian Thielemann über den „Jungfernkranz“ als Volks- und/oder Kunstmusik. Vor dem Zwischenvorhang erscheinen acht stark „gepolsterte“ Chordamen in der Tracht der „Wildecker Herzbuben“; zuvor hatte die Generalmusikdirektorin ein Schild hochgehalten, auf dem zu lesen war: „Ich distanziere mich von dieser Szene!“ Was dem wohl bei der Probenarbeit vorausgegangen war? Zum Jägerchor, der übrigens ordentlich und sauber gesungen wurde, sah man ständig Fernsehbilder eines Aufmarschs einer Pegida-Demonstration. Am Schluss wird der schwarz-rot-goldene Flagge gehuldigt, die ein Farbiger schwenkt.

Ania Vegry

Nun zur musikalischen Verwirklichung, die naturgemäß durch die Überfülle an Aktionen auf der Bühne und in Videos stark beeinträchtigt war. Die Sängerinnen und Sänger konnten einem nur leidtun, weil man immer wieder von anderem abgelenkt war. Mit schönem, in den dramatischen Teilen etwas glanzlosem Tenor wartete Eric Laporte als Max auf. Von besonderer Güte war die Agathe von Dorothea Maria Marx, die mit lyrischer Emphase ihre Partie zu gestalten wusste. Sicher, wenn auch in den Höhen ein wenig unruhig sang Ania Vegry das Ännchen. Kaspar war bei Tobias Schabel und seinem abgerundeten, charaktervollen Bass gut aufgehoben. Die sonoren Bässe von Michael Dries und Shavleg Armasi passten gut zum Erbförster Cuno und zum Eremiten; als ordensbehängter Ottokar gefiel Stefan Adam mit durchschlagskräftigem Bariton. Chor und Extrachor präsentierten sich spielfreudig und klangstark (Choreinstudierung: Dan Ratiu).

Schon zur Pause gab es im fast ausverkauften Haus Buh-Rufe; das danach deutlich reduzierte Publikum bedankte sich bei allen Akteuren für die musikalischen und gestalteristischen Leistungen mit starkem Beifall; das Regieteam erlebte einen wahren Buh-Sturm, in dem vereinzelte Bravos untergingen.

Gerhard Eckels
13. Dezember 2015

Weitere Vorstellungen: 16.,23.12.2015+07.,17.,31.01.+13.02.2016 u.a. mehr

Bilder: Thomas M. Jauk