Hannover: „Candide“

(Premiere am 24. Oktober 2015)

Überdrehtes Unikum

Im Musiktheater ist Leonard Bernsteins „Candide“ ein Unikum, ist doch das in mehrfacher Hinsicht überdrehte Werk, vom Komponisten als „Comic Operetta“ bezeichnet, kaum einer einzelnen Sparte zuzuordnen. Ulrich Schreiber bezeichnet es als komische Oper amerikanischen Zuschnitts, während manches in der brillanten Partitur wie beispielsweise die Songs eher in Richtung Musical deutet. Die Vorlage des Werks, Voltaires Roman „Candide oder der Optimismus“ (1759), parodiert und kommentiert bissig die „Theodizee“ („Gottes Gerechtigkeit“) Gottfried Wilhelm Leibniz’, dessen 300.Todestag Hannover im nächsten Jahr gedenken wird. „Candide“ ist ein Aufruf, sich aus der Schicksalsfügung zu befreien, sich dabei aber nicht über andere Menschen zu erheben, sie zu bekehren, belehren oder gar umzuerziehen. Ein Plädoyer für Toleranz und für die Arbeit an sich selbst.

Die Hauptpersonen sind Baroness Cunegonde und der ihr zugetane, aber nicht standesgemäße Cousin Candide. Bis die beiden sich endgültig finden, führt die höchst unwahrscheinliche, aberwitzige Handlung an verschiedene Spielorte wie in ein Schloss in Westfalen, in ein Fischerdorf bei Lissabon, nach Paris, Buenos Aires, Montevideo sowie Surinam und nach Venedig. In schrecklichen Kriegswirren geht Candide seine geliebte Cunegonde verloren, durch die Inquisition in Lissabon sein skurriler Hauslehrer Dr. Pangloss, dessen Philosophie-Unterricht in dem in sich logischen Satz mündet: „Aus der Tatsache, dass die Welt, in der wir leben, die einzige mögliche Welt ist, folgt, dass sie die beste aller möglichen Welten ist.“ Dieser so definierte Optimismus wird auf eine harte Probe gestellt, wenn die – satirisch übertriebene – Realität über Candide hereinbricht. In Paris findet er die tot geglaubte Cunegonde als Halbweltdame mit einer „Old Lady“ wieder, tötet ihre beiden Zuhälter und flieht mit den Frauen in die Neue Welt, verliert sie dort abermals, erleidet Schiffbruch und gelangt, auf wundersame Weise wieder mit Pangloss vereint, nach Venedig, wo er die beiden Frauen als Falschspielerinnen entdeckt. Nun geht es doch nach Hause, wo geheiratet wird. Im gewaltigen Opern-Finale akzeptiert Candide die ihn umgebende Welt, wie sie ist, und findet so seinen Frieden – ein eher nachdenklicher Schluss.

Christopher Tonkin/Sung-Keun Park/Frank Schneiders/andere Cunegonde Carmen Fuggiss

In Hannover ist Matthias Davids eine rundum überzeugende Inszenierung gelungen. Natürlich ist es unmöglich, alle Spielorte zu zeigen; so hat man das Orchester auf der bis zum Graben vorgezogenen Bühne postiert. Im Hintergrund vor passenden Video-Einspielungen und mitten drin zwischen den Instrumentalisten wird in einem nur Andeutungen enthaltenen Einheitsbühnenbild (Mathias Fischer-Dieskau) agiert. So ist man jederzeit auf der Höhe des Geschehens, auch durch die ausladenden, detailverliebten Kostüme von Susanne Hubrich. Das Opernensemble mit einigen Chor-Solisten, der von Dan Ratiu einstudierte Chor und zwei Schauspieler (Daniel Drewes/Jan Viethen) waren von überschäumendem Temperament, die Szenenwechsel erfolgten in rasantem Tempo. Durch die irrsinnige Handlung führte als Voltaire Frank Schneiders, der neben zwei weiteren kleineren Rollen mit Leipniz-Perücke auch den philosophierenden Hauslehrer Pangloss gab. Dabei gestaltete er pointenreich und sang dazu noch trotz einer angesagten Indisposition trefflich charakterisierend.

Sung-Keun Park/Frank Schneiders/Daniel Drewes/Jan Viethen

Der reichlich naive Candide wurde von Sung-Keun Park glaubwürdig dargestellt, wozu sein charakteristisch warmer Tenor bestens passte. Seine Cunegonde war Cornelia Zink, die mit ihrem sicher durch alle Lagen und in höchste Höhen geführten Sopran sowie mit glänzender Virtuosität und Spielwitz in der berühmten Bravour-Arie „Glitter and be gay“ begeisterte. Als teilweise urkomisch wirkende „Old Lady“ trat mit kultiviertem Mezzosopran Diane Pilcher auf. In kleineren Rollen gefielen Carmen Fuggiss als sex-süchtige Kammerfrau Paquette und als Cunegondes tuntiger Bruder Maximilian Christopher Tonkin. Alle anderen im Ensemble trugen durch ihre ansteckende Spielfreude mit zum großen Erfolg des Abends bei.

Carmen Fuggiss/Christopher Tonkin

Ganz wesentlich aber ist dieser Erfolg Karen Kamensek zu verdanken, die sich „Candide“ für ihre letzte Spielzeit in Hannover gewünscht hatte und von Beginn an – so fetzig hört man die bekannte Ouvertüre selten – mit dem in allen Gruppen bestens disponierten Niedersächsischen Staatsorchester für Schwung und Rasanz sorgte, wobei die lyrischen Teile der brillanten Partitur allerdings auch nicht zu kurz kamen.

Zwischendurch und besonders am Schluss gab es stürmischen Beifall für alle Beteiligten, der sich bei Hannovers GMD‘in noch steigerte. Der Applaus brach jedoch abrupt ab, als bekannt gegeben wurde, dass wegen Terrordrohungen das Länder-Fußballspiel abgesagt war und die Polizeipräsenz in der Stadt erheblich verstärkt worden war, ein bedrückender Abschluss eines tollen Musiktheaterabends.

Gerhard Eckels 18. November 2015

Bilder: Thomas M. Jauk

Weitere Vorstellungen: 1.,12.2015+6.,10.1.2016