Hannover: „Manon Lescaut“

Klanglich wuchtig und szenisch konventionell

Lieber Opernfreund-Freund,

in einer Wiederaufnahme ist derzeit an der Hannoveraner Staatsoper die Produktion von Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ zu erleben, die vor nunmehr fast 125 Jahren den Weltruhm des toskanischen Komponisten begründete. Sein drittes Bühnenwerk orientiert sich an der literarischen Vorlage des Abbé Prévost aus dem Jahr 1731 und Puccini hatte diese gegen Bedenken seines Verlegers durchgesetzt, der die Konkurrenz zur Jahre zuvor entstandenen „Manon“ von Jules Massenet fürchtete. Zu Unrecht, wie der Erfolg des Werkes bis heute zeigt.

Die Oper ist, wie beispielsweise Puccinis spätere Werke „La Bohème“ oder „Madama Butterfly“ auch, keine durchgehende Erzählung einer Geschichte. Vielmehr zeigt das Werk einzelne Schlüsselszenen aus der literarischen Vorlage, beschreibt das Kennenlernen des Paares, die Wiedervereinigung und missglückte Flucht der beiden, die Deportation nach Amerika und den einsamen Tod in der Wüste. Dazu hat Puccini leidenschaftliche Musik ersonnen, sein musikalisches Genie, seine schwelgerischen Melodienbögen voller Schmelz und sein Talent, mit musikalischen Motiven zu arbeiten, zeigen sich vor allem in den beiden letzten Akten, die auch das so zarte wie intensive Intermezzo umfassen, das in Hannover nicht vor dem dritten, sondern vor dem vierten Akt gespielt wird.

Bebildert hat das Olivier Tambosi in recht konventioneller Weise. Und doch gelingt es dem Österreicher, die Titelfigur nicht als oberflächliches Luxusgör, sondern als aufrichtig liebende Frau zu zeichnen. Gerät der erste Akt noch reichlich wuselig, findet der Regisseur auf der dunkel gehaltenen Bühnen von Frank Philipp Schlößmann in der zweiten Hälfte des Abends zusehends Wege, auch auf belebter Bühne den Focus auf das Liebespaar zu lenken. Die rokokoartig überzeichneten Kostüme von Gesine Völlm sind eine wahre Augenweide und lassen Manon in ihrem goldglitzernden Kleid im zweiten Akt beinahe als glitzernden Fremdkörper in einer an sich glamourösen und doch tristen Männerwelt erscheinen, deren Brutalität sich im dritten Bild vollends offenbart. Dass der intime Moment des Todes durch eine Art Hochhauskulisse, ähnlich dem Kennenlernen zu Beginn irgendwie unter den Augen aller passiert, ist zudem ein gelungener Coup.

Gelungen ist auch die Auswahl des Sängerpersonals. Karine Babajanyan ist eine betörende und präsente Manon und formt mit ihrem warm strömenden, gehaltvollen Sopran eine detaillierte Zeichnung der Titelfigur zwischen Überdrehtheit, Selbstverliebtheit und Verzweiflung. Der portugiesische Tenor Paulo Ferreira zeigt den des Grieux nicht als Tenor, der sich nur wuchtig in die Höhen wirft. Vielmehr findet er die zarten Töne in der Partie, schickt viel Gefühl über den Graben und läuft so in der zweiten Hälfte des Abends zu Höchstform auf. Brian Davis ist ein eindrucksvoller Lescaut und zeigt als jovialer Lebemann seinen imposanten Bariton und Michael Dries erweckt den alten Lüstling Geronte mit viel Haltung und Ehrfurcht gebietendem Bass zum Leben. Von den zahlreichen kleineren Rollen macht vor allem Edward Mout Eindruck, der seinen feinen Tenor gleich doppelt als Tanzmeister und Lampenanzünder zeigen darf. Der Chor, von Lorenzo Da Rio einstudiert, ist glänzend disponiert und meistert seine Aufgabe vollkommen.

Ja, habe ich denn heute gar nichts zu bemängeln? Leider doch, lieber Opernfreund-Freund, denn das, was da gestern aus dem Graben schallte, hatte mit Puccini nicht viel zu tun. Man muss den Meister aus Lucca wahrlich nicht weichgespült präsentieren, aber man muss seiner Musik die Möglichkeit geben, die Intention des Komponisten auszudrücken. Das kantige Dirigat von Alexander Drcar tut das nicht. Mit ungeheuren Tempi hetzt er durch die Partitur, kleistert die Sänger mit Dauerforte zu, statt sie zu (unter)stützen und lässt jegliche Italianitá, jegliche Dolcezza vermissen. Die beiden letzten Akte liefert er in der Rekordzeit von 45 Minuten ab; dass dabei selbst das Intermezzo scheppernd und über die Maßen laut daher kommt, ist nicht verwunderlich. Die Orchestermusiker mag‘s gefreut haben – sie hatten 10 Minuten früher Feierabend – mich nicht! Und doch mag ich Ihnen nicht abraten von einem Besuch dieser Produktion, zu gelungen ist die Schwarz-Weiß-Zeichnung von Olivier Tambosi, zu hoch die sängerische Qualität – und zu hörenswert dieses Werk.

Ihr Jochen Rüth / 11.11.2017

Die Fotos stammen von Jörg Landsberg und zeigen als des Grieux Ricardo Tamura, die Besetzung der vergangenen Spielzeit.