Hannover: „Rusalka“

Nur musikalisch gelingt der Blick hinter die Maske

Regisseur Dietrich W. Hilsdorf verlegt Rusalka in den Keller der Pathologie – und operiert dadurch komplett vorbei an der entscheidenden Qualität dieser tragischen Opernheldin: ihrer Seele.

„Der Mensch wird ja nur dadurch zum Menschen, dass er sich am Blut anderer Menschen berauscht“: So lautet das Fazit der Hexe im dritten Akt. Der Prinz also ein Graf Orlok, sein Schloss Kulisse aus Murnaus „Nosferatu“, als „Vorgeschichte“ noch rasch eine wahre, zum „Kult“ geratene Begebenheit angestrickt: eine „Unbekannte aus der Seine“, der Titelheldin seelenverwandte Wasserleiche, deren geheimnisvoll lächelnde Totenmaske zur Entstehungszeit der Oper die Wände unzähliger Jungmädchenzimmer schmückte wie hier die Szenerie. Und schon scheint die „Rusalka“-Geschichte stimmig, zumindest befreit von Kitsch, erzählt.

Was leider nicht so ist. Denn auch bei dieser Deutung, die Dvoraks Oper über die Sphäre des Märchenhaften hinausheben will, spielt letztlich alles im Reich der Mythologie: Vampire entstammen ihm ebenso wie die Rusalken. Letztere gelten im russischen und slavischen Volksglauben nicht nur als naive Märchenfiguren, sondern als Wiedergängerinnen unglücklicher und Unglück bringender Frauen – Selbstmörderinnen, Kindsmörderinnen, Ehebrecherinnen.

Für sie alle gibt es zwar nicht historisch belegte, jedoch literarische Vorbilder, die wiederum zu Opernheroinen wurden: Jenufa und Katja Kabanowa. Erst die Beschäftigung mit „Rusalka“ macht verständlich, weshalb er für Janacek naheliegend war, ihr Schicksal zu vertonen (im Falle „Jenufa“ nur drei Jahre nach der Uraufführung von Dvoraks erfolgreichster, neunter Oper): Diese Frauen sind (noch) lebendige Rusalken.

Ursprung und Bedeutung der „Nixe der Slaven“, einem Gegenbild zur Braut, wie sie der damaligen Tradition entsprach, sind im Programmheft ausführlich erläutert. Der wichtigste Aspekt: „Im slavischen Hochzeitsritual wird die Heirat einer Frau als verwandt mit dem Tod betrachtet.“ Die noch unverheiratete Jenufa also ist noch lebendig – der Tod, der sie schließlich ereilt, ist ihre Hochzeit –, die verheiratete Katja Kabanowa ist seelisch bereits tot, bevor sie konsequenterweise Selbstmord begeht. Obwohl vor diesen beiden Werken und von einem anderen Komponisten geschrieben, lässt sich aus heutiger Sicht „Rusalka“ als dritter Teil der beiden Janacek-Opern begreifen – sowohl als deren „Vorgeschichte“ als auch als düstere Voraussage eines unabwendbaren Frauenschicksals.

Janacek selbst jedoch hat mit dem „Schlauen Füchslein“ ein positives jenem negativen Märchen entgegengesetzt. Es ist das Ende eines Initiationsritus, den die Frau in drei Stadien durchläuft: Anpassung (Jenufa), Selbstverleugnung und Tod (Katja Kabanowa), bis schließlich Ausbruch und Freiheit gelingen. Für Rusalka muss dies ein Traum bleiben, im Falle des „Schlauen Füchslein“ scheint die Überwindung des Gefängnisses der Konvention, verbunden mit dem Finden der wahren weiblichen Identität, nur in der Fabelwelt möglich.

Genau wie „Rusalka“ ist jedoch „Das Schlaue Füchslein“ viel mehr als nur ein Märchen – beide sind symbolistische Musikdramen. Wie wunderbar es gelingen kann, ein solches Vexierspiel aus Bewusstseinszuständen, Film, Revue, Traum und Theaterrealität auf die Bühne zu bringen, hat Johannes Erath in seiner Hamburger Inszenierung des „Schlauen Füchslein“ gezeigt. Genau so wie Erath den Schanktresen in den Wald – mithin in das Dickicht des Unterbewussten der sich in der Kneipe treffenden Männer – verlegt hat, gehört Rusalka nicht eingesperrt in den Keller der Pathologie, sondern der Seziertisch hinaus in die nächtliche Natur. Dies wäre nicht etwa kitschig, sondern böte Aufschluss über das wichtigste Geschehen der Oper überhaupt: Das innere Erleben der Titelheldin.

Rusalka ist nämlich alles andere als gefühllos. Sie sehnt sich nicht nur nach Liebe, sondern sie gibt sie auch, und sei es nur als streichelnde Welle. Dvoraks Oper ist, im Unterschied zu anderen Vertonungen des Stoffs, nicht zufällig aus Sicht der Elementargeister erzählt. Und anders als Andersens „Kleine Seejungfrau“ ist Rusalka äußerst reflektiert – sie ist eine Intellektuelle, die jedoch nicht nur über Verstand, sondern auch über ein Herz voller Wahrnehmungsintensität, Mitgefühl und Poesieempfinden verfügt. Dvoraks Heroine ist der einzige echte Mensch unter lauter Maskenträgern und Leuten, die sich die Zeit mit „Spielen der Erwachsenen“ vertreiben. Die Lebenden sind die eigentlichen Toten – zumindest jedoch sind sie Autisten. Allen voran der Prinz: Seine Arien sind Monologe, und er besingt eine irreale Adressatin. „Rusalka“ ist die Tragödie einer hochbegabten Frau, die sich deshalb nicht verständlich machen kann, weil ihre Mitmenschen unfähig sind, ihr inneres Erleben nachzuvollziehen. Um dies zu können, mangelt es ihnen an Empathiefähigkeit – und an Verstand.

Dass solche Frauen keine Fantasiewesen, sondern höchst real sind, ist zumindest im Programmheft schemenhaft angedeutet: Dichterinnen wie Ingeborg Bachmann und Sylvia Plath haben sich nicht zufällig mit dem „Undine“-Stoff befasst. In ihren Texten erzählen diese modernen Rusalken von jener Urgestalt, die ihr Schicksal teilt und vorausnimmt. In dieser Inszenierung jedoch darf Rusalka nicht das sein, was sie eigentlich ist – emotional leidende, höchst heutige und intelligente Frau –, sondern muss auf der patinafarbenen Bühne als Untote herumgeistern, grimassierend wie eine Stummfilmdiva.

Spätestens in der Pause zwischen erstem und zweitem Akt verkommt sie vollends zu Karikatur, als ein Nymphchen – zwar mit Hemdchen, doch ohne Röckchen – sich neckisch mit dem Popo wackelnd in einen Kostüm-Fischschwanz zwängt. Wie sich später herausstellt, sind sie und der Karnevalsneptun, der sie triumphierend davonträgt, Höhepunkt der Hochzeitsfestlichkeiten. Die Anklage jedoch, die der Regisseur gegen gesellschaftliches Unverständnis und Ausgrenzung der unangepassten Frau erhebt, verpufft hier als simpler Klimbim-Klamauk. Der demonstrativ lang offen bleibende Vorhang am Schluss (zugleich als Rückbezug zum Anfang intendiert) ist daher weniger Anklage an das Publikum als an den Regisseur.

Dies deshalb, weil es vor allem im zweiten Akt allein dem Orchester zukommt, das innere Erleben Rusalkas zum Ausdruck zu bringen – im Menschenreich ist sie zur Stummheit verdammt. Nicht nur hier, aber hier vor allem läge es nahe, die komplexe Emotionalität dieses musikalischen Psychogramms durch Bilder zu verdeutlichen. Statt jedoch die Seelenzustände der Titelheldin zu zeigen, beschränkt sich die Inszenierung darauf, lediglich ihre Eingesperrtheit zu spiegeln (nicht jedoch ihr Ausgegrenztsein) und wechselt schematisch zwischen Oberwelt der Menschen und Unterwelt der Geistwesen (was, gemäß der tatsächlichen psychischen Disposition der Charaktere, eigentlich genau anders herum sein müsste).

Obwohl Bühnenbild (von Dieter Richter) und Kostüme (von Renate Schmitzer) als durchaus gelungen zu bezeichnen sind, also am besten gar nicht erst hinschauen – auch nicht auf die Uhr, die übrigens tatsächlich vergehende Zeit anzeigt und mit der Einstellung fünf vor zwölf beginnt (während es im Kopf des Zuschauers im Verlauf des Abends nicht selten dreizehn schlägt). Die Konzentration auf die Musik nämlich gibt nicht nur Aufschluss über Rusalka, sondern auch über den Komponisten. Dvorak, dem eine große Nähe zu Wagner attestiert wird, kann es in dieser Oper stellenweise mühelos auch mit Puccini aufnehmen (in den Arien des Prinzen, denen Andrea Shin den dazugehörigen betörenden Schmelz verleiht) sowie mit Verdi (der Hochzeitschor hat geradezu italienischen Schwung).

Sandra Janusaite gelingt es, die komplexe Seele der Titelheldin sowohl in den lyrischen Gesängen des ersten Akts als auch den ariosen Partien des dritten mit wunderbarem Kolorit aus Sehnsucht und Melancholie zu verlebendigen. Entsprechend ihrer Rollen stimmlich furios sind Khatuna Mikaberidze als Hexe und Brigitte Hahn als Fürstin; die traurigen Gesänge des Wassermanns sind dank Tobias Schabel stets auch von Warmherzigkeit geprägt. Die Grundstimmung wiederum ist ganz und gar getragen von der melodiösen, naturverbundenen Klangfülle, die man mit tschechischen Komponisten verbindet. Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter Leitung von Anja Bihlmaier sorgt dafür, dass diese „Rusalka“ zumindest musikalisch zum wunderbar facettenreichen und berührenden Gemälde wird.

Christa Habicht, 13. Oktober 2015

Sämtliche Fotos: Thomas M. Jauk