Premiere: 7. März 2020
Dass ausgerechnet Ulrich Spiller, besser bekannt als „(Bayreuther) Kartenhai“, am Ende des sechs Stunden langen Abends und des nunmehr glücklich vollendeten kompletten „Ring“, also zu den selig verklingenden Schlusstakten der „Götterdämmerung“ den Ring geschenkt bekommt, weil er zufällig in der ersten Reihe Mitte des Kasseler Staatstheaters sitzt: diese hintersinnige Pointe hätte sich kein Regisseur ausdenken können – aber wer weiß: Vielleicht ist diese seltsame Ringvergabe aus den Händen eines Kindes bedeutungsvoller, als es die Entgegennahme des titelgebenden Symbols durch einen „normalen“ Kasseler Bürger je sein könnte.
Wir sehen auch diesmal, wie schon im „Rheingold“, Dutzende von „Bürgern der Stadt Kassel und Umgebung“, wie die Herren und Damen von der Statisterie genannt werden, die uns am Ende des fünften Kasseler Nachkriegs- „Ring“ wenigstens kurz, unvermeidbar an Chéreaus „Ring“-Schluss erinnernd, bedeutungsvoll anschauen. Natürlich: Tua res agitur, oder, wie der Dramaturg Christian Steinbock im Programmheft schreibt: „In welcher Welt wollen wir leben?“ Die Idee des Kollektivs, das sich aus den Einwohnern der Stadt und ihrer Umgebung speist, für die dieser „Ring“ zuallererst gemacht wird, und die nicht zu verwechseln ist mit den Massenornamenten des Münchner „Rings“ von Andreas Kriegenburg, wäre allzu simpel, würden sich mit ihr nicht immer wieder beeindruckende und berührende Bildfindungen verbinden. Wenn Waltraute der Schwester den Ring abzugewinnen versucht und gleichzeitig ein Heer von Menschen wie Du und Ich in fast uniformen Unterhosen und -hemden einer zentralen Szene nicht nur der „Götterdämmerung“ beiwohnen, und wenn sie gleichzeitig den traurig zusammengesunkenen Gott namens Wotan und seine zwei „Raben“ in die Mitte aufgenommen haben, braucht es keine weiteren Worte, um die Intention der Regie zu begreifen – auch wenn zwischen dem Schicksal der Götter und dem der Menschen Unterschiede bestehen mögen; am Anfang wie am Ende sind auch die Götter bei Wagner stets nur Menschen gewesen. Die Szene funktioniert auch deshalb, weil Ulrike Schneider, obwohl ihre Stimme ihren Zenit bereits überschritten hat, dem kurzen, aber wichtigen Part etwas Wesentliches mitgibt: eine Anteilnahme, die die Bewegung und Motivation dieser Figur umstandslos auf uns überträgt. Das Orchester hilft ihr freilich dabei; an diesem Abend setzt der GMD Francesco Angelico mit dem Staatsorchester Kassel gelegentlich auf betonte, langen Atem abfordernde Langsamkeit, die den Emotionen allen Raum lässt, und auf feinste Kammermusik, wobei ihm der tiefe Graben mit dem breiten Steg perfekt entgegenkommt. Und die dissonanten Hörner des Mannenchors dröhnen, das ist, pardon, einfach nur „geil“, von den Rangtüren ins Haus.
Der erste Rabe ist übrigens bei Regisseur Markus Dietz keiner von Wagners Wotanraben, denn diese verfolgen ja, wie Wotan selbst zu Siegfried sagt, den Vogel. Er ist in Kassel, als eigene Deutung des Symboltiers, niemand anderes als der Waldvogel, also die Seele von Siegfrieds Mutter, worauf Wagner selbst mehrmals hinwies – nur, dass er bei Wagner im letzten Teil der Tetralogie „nur“ noch in der Musik erinnert wird: doch immerhin kurz vor seiner Ermordung. Berührend zu sehen, wie die junge blutbeschmierte Frau (Dalia Velandia) Siegfried auf seinem letzten Weg begleitet, Sieglindes blutgetränktes Gewand anzieht und nicht verhindern kann, dass die älteste Norn dem zweifelhaften Helden im Kostüm der zur Hochzeit gezwungenen Brünnhilde schließlich stumm den Tod verkündet. Es sind dies so Szenen, die auch die Inszenierung der „Götterdämmerung“ zu einem spielerischen wie symbolisch tiefsinnigen Schauspiel machen, angesichts dessen es nicht ins Gewicht fällt, dass Grane einer jener SM-Männer mit nacktem Oberkörper und Mundverschluss ist, der von den Walküren in ihr höllisches Walhall gezogen werden sollte. Reizvoller ist ohne Zweifel die Frage, wieso die Rheintöchter ihren herrlich-herbstlichen Gesang beim toten Alberich ihren schönen Mündern herrlich entspringen lassen. Hat sich der Kadaver aus dem Albtraum des die Halle hütenden Hagen in die Wirklichkeit der Rheinszene und ihres Goldlamettavorhangs begeben? Möglich wäre ja diese surreale Idee, denn der „Ring“ spielt, wie Götz Friedrich einmal ganz richtig (und durchaus unbanal) gesagt hat, auf dem Theater.
Hagens Nachtwache gehört in dieser Deutung also zu den stärksten Interpretationen dieser Szene, die ich je gesehen habe: Zu Beginn des 2. Akts erinnert sich Hagen träumend daran, wie sein Vater ihn einst asozialisierte: „Hasse die Frohen!“ Aus dem Albtraum des furchtbaren Vaters vermag sich der gequälte Traumsohn, dem auch die tröstende Handauflegung des „realen“ Hagen nicht hilft, nur durch die Ermordung des lieblosen Erzeugers, der von Thomas Gazheli angemessen deutlich gesungen wird, zu befreien – und wir begreifen ohne weitere Erklärungen, wie so Hagen wurde, wie er ist. Ähnlich Starkes wird man an diesem unterhaltsamen wie gelegentlich bannenden Abend kaum noch sehen, ähnlich Beklemmendes sah man am Ende des 1. Akts: die vor einer Großbildleinwand kauernde Brünnhilde, deren Vergewaltigung im Schwarz-Weiß-Film gezeigt wird (Video: David Worm), während der falsche Gunther vom Rang herab singt und unsichtbar bleibt. Weitere Projektionen sehen wir in den Zwischenspielen: Probenszenen mit Alberich und den Rheintöchtern, Fricka auf ihrem Motorrad – die Oper ist auch eine Welt des Scheins, und das Opernhaus ist zugleich die Welt mit ihren Menschen. Das ist so banal wie sinnfällig.
Die Menschen heißen Gunther und Gutrune, sie pflegen – auch das ist nicht neu – sich dem Inzest hinzugeben. Sex & Wine – Rotwein fließt, so wie das Kunstblut, in Fülle. Er ist ein legerer Yuppie, der von Hansung Yoo sehr baritonstark gesungen wird, sie eine gestylte Frau, die zunächst beim schmutzigen Deal willig mitmacht und zu spät versteht, was Mann auch ihr antat. Die Regie hält einen Trost für sie bereit, die von Jaclyn Bermudez komödiantisch wendig und tragisch-ernst gespielt wird: der Waldvogel schlüpft vor dem Mannenchor kurz zur schlafenden Gutrune. Auch Brünnhilde agiert an diesem Abend ausgesprochen menschlich: Kelly Cae Hogan spielt und singt die Rolle zwischen der Verzweiflung des Abschieds und der Verzweiflung des totalen Verrats bis zm souveränen Verzicht aufs Erdenglück mit dem sopranwarmen Timbre für die großen Gefühle und den präzisesten Ausdruck – und die Regie gönnt ihr, bei ihrer großen Abschiedsrede, allen Raum im Zentrum des Lichts, das diesmal nicht vom blendenden „Tarnhelm“ ausgeht: assistiert von den Rheintöchtern. Der „Ring“ ist ja nicht allein eine Tragödie des scheiternden Vaters…
Ihr Siegfried ist ein leicht verwahrloster Jüngling mit Drachen-T-Shirt und (echtem) Langhaar; dass er verwahrlost ist, merkt man daran, dass er nicht weiß, wie eine Kaffeemaschine funktioniert; der Rest des Inhalts des Geräts landet auf dem Boden, was nicht nur in die Musik hineinrumpelt, sondern auch ein überalterter Regieeinfall ist, dessen Haltbarkeitsdatum ebenso abgelaufen ist wie manches, was Siegfried im Kühlschrank entdeckt – aber Daniel Frank singt den naiven jungen Kerl mit einem lyrischen Ton, der sich heldisch aufschwingen kann, ohne ins bloße Brüllen zu geraten. Starker Beifall auch für diesen Darsteller.
Albert Pesendorfer spielt dagegen einen Hagen, dem auf den ersten Blick und aufs erste Hören anzumerken ist, dass er dem tumben Toren haushoch überlegen ist: wie schon sein Bayreuther Hagen (und sein Nürnberger Sachs etc. etc.) eine Person von Statur: vokal wie körperlich, auch wenn die Regie ihn eher zurückhaltend agieren lässt. Die graue Eminenz bleibt, wenigstens bis zur versuchten Vergewaltigung Gutrunes, lieber im Hintergrund oder während des Eids auf dem reichlich bespielten Orchestersteg, wenn er nicht gerade das Heer der Mannen furios antreibt. Dieses ist beim Kasseler Opernchor unter Marco Zeiser Celesti bei besten Kräften: hier schollert nicht nur bei des berühmten Basses Grundgewalt das Stimmkollektiv äußerst gewaltig in den Saal.
Gewaltig im Sinne der Ästhetik aber agieren die Rheintöchter; Marta Herman, Vero Miller und Elizabeth Bailey singen in den Vintage-Strandkostümen der 50er Jahre (als die Welt noch „in Ordnung“ war), aber körperlich versehrt, ein wunderschönes Terzett, für das der Begriff „homogen“ erfunden wurde (auch wenn sie die durchaus unschöne Tat der Erstickung Hagens durch herumliegende Kleiderstoffe durchführen). Das zweite Mini-Kollektiv der „Götterdämmerung“ ist das der Nornen, hier ergänzt Doris Neidig, freilich mit überlautem Ton, als 3. Norn das Duo von Herman und Miller.
Gespielt wird die urälteste Norn von einer Statistin; sie darf sich am Ende die Tötung Gunthers von der Bühnenseite aus anschauen, bevor sie sich erhebt und zu Wotan und einer weiteren Norn gesellt, die schon auf dem zentralen Bühnenelement dieses „Ring“, dem Lichtstäbe-„W“, Platz genommen haben. Es wird schließlich, szenisch schlicht und eher als Verlegenheitslösung, von einer Wand verdeckt werden, nachdem eine Feuerreihe entflammt wurde; mit dem Feuer, um das sich die Kasseler Bürger scharten, hat der Abend ja begonnen. Als sog. Gutmenschen wurden sie indes nicht angelegt; Aggressivität herrscht zu Beginn auch in dieser Truppe, doch wenn am Ende der Ring die Bühne verlässt, um von einem unwissenden Kind einem Kartenhai geschenkt zu werden, wissen wir, dass die Welt noch nicht ganz verloren ist: und dass es gelegentlich gelingt, mit nicht wenigen szenischen Momenten und einer insgesamt guten bis überwältigenden musikalischen Interpretation die „Ring“-Welt wieder ein wenig neu und doch überzeugend auszumessen. Riesenbeifall für alle, keine Buhs für die Regie: die Kasseler Wagner-Welt hat, Jahre nach dem konzeptionell exzellenten „Leinert-Ring“, einen weiteren bildstarken und dramatisch meist packenden „Ring“ erhalten.
P.s. Dieser Meinung war übrigens auch eine vielleicht 17jährige, die am Abend neben mir saß und mir kurz vor dem 3. Akt sagte, dass ihr die Aufführung „sehr gut“ gefalle. Wie gesagt: Die (Opern)-Welt ist nicht verloren – solange es begeisterte Zuschauerinnen gibt, die ca. 125 Jahre nach der Premiere des Werks geboren wurden.
Frank Piontek, 9. März 2020
Fotos: © Nils Klinger