Ich weiß nicht, wie viele „Siegfried“-Vorstellungen ich live erlebt habe – aber das Vorspiel des dritten Aufzugs, dieses unvergleichliche Präludium zum vorletzten Zwischenzustand des scheiternden Sturmgotts, das mich und wohl viele andere Hörer unweigerlich zu einem äußeren oder wenigstens inneren headbanging provoziert, dieses Vorspiel habe zumindest ich noch nie so sanft, ruhig, ja fast meditativ gehört wie am 18. Mai 2023.
Darf man das? Ist das erlaubt? Hat ein Dirigent die Lizenz, die Erwartung eines sehnsüchtig aufs Immergleiche und immerwieder Aufpeitschende so zu enttäuschen wie‘s Francesco Angelico an diesem Abend tut? Ein Blick in die Noten, das Eigentliche, also Wagners Partitur, die, für sich gesehen, nichts mehr ist als eine Anhäufung von Punkten, Strichen und interpretierbaren Worten, ein Studium der ersten Seiten des dritten „Siegfried“-Akts aber bringt Interessantes zum Vorschein. Die Spielanweisung ist, typisch Wagner, vielfältig: „Lebhaft, doch gewichtig“. Gewichtig… Die Dynamik beginnt beim piano, steigert sich in kurzen Anläufen jeweils zum forte, um sogleich zur Leisheit zurückzukehren. Das geht so etliche Takte lang, bis ein erstes fortissimo die Dynamik steigert – und wenige Takte später von Neuem beim vertrauten piano-forte-piano-Schaukeln landet. Erst auf der siebenten Seite der Partitur erreicht der auskomponierte Sturm mitsamt der schrillen Flöten ein fortissimo des Orchester-Tutti, das schon nach acht Takten zum forte, dann wieder zum piano diminuiert. Und das alles hat in einem unwandelbaren Tempo zu geschehen, dem die Anweisung für die Hörner im 15. Takt die Richtung gibt: „sehr gehalten“, wobei der Dirigent peinlich darauf zu achten hat, dass ein piano ein piano zu bleiben hat und die Abstände zwischen den forte-Crescendi genau beachtet werden müssen – erst recht, wenn der Sänger des Wotan die Szene betritt und sein „Wache, Wala!“ in de Saal zu singen und eben nicht zu „schmettern“ hat. Beachtet der Dirigent nämlich nicht die Anweisungen, ist der Wanderer schon nach wenigen Takten „tot“, wie es so hässlich im Jargon heißt.
So also klingt das Vorspiel, wenn der Kasseler GMD am Pult des Staatsorchesters steht: eher gewichtig, lebhaft dort, wo ein innerer Puls erspürt wird, nicht gehetzt, sondern, wie gesagt, fast meditativ. Darf „man“ so etwas? Man darf es, wo es nicht um einen Action-Thriller, sondern um das hochwichtige wie seltsame, nicht allein den Regisseur an Samuel Beckett erinnernde und zugleich musikalisch packende Gespräch zwischen dem Gott und seiner ehemaligen Geliebten geht. Das zurückgenommene Tempo und die gedrosselte Dynamik sorgen dafür, dass tatsächlich jede der Aussagen Wotans und Erdas allgemein verständlich in den Zuschauersaal dringen – so wie, das war gut eine Stunde zuvor, das vokal gefährliche, oft einfach nur überhastet gebrachte „Kavaliersduett“ von Mime und Alberich selten so prägnant über die Rampe kommt, dass selbst der „Siegfried“-Kenner entzückt ist. Das macht: sicher auch die akustisch hervorragende Position der beiden Sänger, die der Regisseur, vielleicht auch der Dirigent auf den Bühnensteg geschickt hat; so wie Mime allein, der während des latent infernalischen Finales des 1. Akts das Glück hat, von hier aus seine wichtigen Mord- und Weltherrschaftsfantasien an die Zuhörer zu adressieren . Da Arnold Bezuyen an diesem Abend einen besonders guten Tag hat, an dem er seinen Tenor fast schöner aus dem Kehlkopf lässt, als es sonst einem garstigen Zwerg zugestanden wird, der vermutlich Sieglinde auf dem Gewissen hat (darüber unterrichtet uns der Vorfilm), ist das Vergnügen der Hörer auch in Betreff dieser Rolle einfach nur vollkommen.
Vielleicht muss man ja diesen oder jeden anderen „Ring“ als eine Reihe von ausgewählten Rollen und ihren Sängern begreifen. Im Rheingold begeisterte (mich) vor allem der Loge von Lothar Odinius, in der „Walküre“ rissen Siegmund Martin Iliev und Sieglinde Nadja Stefanoff die Zuhörer zurecht zu Begeisterungsstürmen hin. „Götterdämmerung“ hat bei Albert Pesendorfers Hagen seinen Schwerpunkt gehabt, nun sind es Arnold Bezuyens Mime und – ja: wer?, die im vokalen Mittelpunkt der Aufführung stehen.
Seien wir ehrlich: Es bleibt schwierig mit dem „Siegfried“ und dem Siegfried. Die Situation ist paradox. Einerseits gibt es viele Tausend für die Oper ausgebildete Sänger und Sängerinnen, andererseits haben es selbst die „großen“ Häuser nicht leicht, erstklassige, damit einzig wirklich taugliche Interpreten des Siegfried und der Brünnhilde zu finden. Das Staatstheater Kassel macht da keine Ausnahme. Nein, schlecht sind Daniel Brenna und Kelly Cae Hogan nicht, aber zwischen „gut“ und „sehr gut“, also im Wagnerschen Sinne ausreichend, bestehen noch fühlbare Unterschiede. Brenna singt einen vorgeschriebenermaßen (prä)potenten Siegfried, der keine Probleme hat, noch das Schlussduett so zu bestehen, dass der Hörer keine Angst um seinen Stimmapparat haben muss – aber die nötigen Nuancen bleibt er im lyrischen Bereich, der doch auch unabdingar zu Siegfried gehört, eher schuldig. Gleichwohl spielt und singt er, jedenfalls nicht durchgängig, keinen puren Schlagetot. Im Gegenteil: Dietz hat ihn, während Brennas Stimme (Wagner hätte das gefallen) bisweilen reizvoll ins Sprechen changiert, auf einen Entwicklungsweg geschickt, der das Leiden an der Pubertät und den Kampf mit der erwachenden Libido deutlich, vielleicht sogar ein wenig zu klar auf die Szene bring. Der „Siegfried“-Aficionado kann mitlachen, wenn Siegfried genau in jenem Moment, in dem er Brünnhildes gebirgigen Busen abtastet, zur berühmten Erkenntnis kommt, es mit keinem Mann zu tun zu haben. So sehen wir auf einen jungen Mann, dessen „Naivität“ sich vornehmlich in einem völlig normalen Hormonüberschuss, in erotischem Liebesbedürfnis, in Übergriffsversuchen äußert, denen sich nicht allein Brünnhilde, auch der Waldvogel erwehren muss.
Der Waldvogel? Dietz teilt die Partie in einen vokalen und spielenden Teil auf; während die ausgesprochen schön ins Ohr dringende Clara Soyoung Lee auf der Galerie steht, performt die Tänzerin Andréanne Brosseau die aparte Figur. Die Idee ist falsch, denn wovor soll sich Siegfried erschrecken, wenn er zum ersten Mal „eine Frau“ erblickt? Schon Castorf hat in Bayreuth, ganz bewusst, den Fehler inszeniert, als er eine im Übrigen hinreißend aussehende Samba-Tänzerin in die Arme Siegfrieds schickte, der denn auch zu den letzten Takten des 2. Akts herzhaft wie einverständlich an ihr rummachte. In Kassel aber kann die Dame Waldvogel die sexuellen Avancen des Jungen, der nicht weiß wohin mit seiner sexuellen Kraft, gerade noch zurückweisen. Zum Kuss kommt es nicht, und das ist aus mehreren Gründen, gut so.
Nun ist es jedoch so, dass falsche Interpretationen, die dem widersprechen, was man gemeinhin über einen Text sagen kann, theatralisch durchaus richtig sein können. Denn allein das Theater entscheidet, zusammen mit der Musik, einzig über das „Richtig“ oder „Falsch“ in der Oper… Wir sehen also mit großem Vergnügen dem Waldvogel zu, der, als Repräsentanz der Stimme der Mutter, nicht als Werkzeug Wotans oder gar Hagen-Alberichs, wie jüngst im „wagnerspectrum“ zur Diskussion gestellt wurde, sich schließlich Sieglindes Gewand überzieht, als es darum geht, dem Drachentöter eine Frau anzukündigen. Natürlich ist das bewegend. Wenn Siegfried schließlich Wotans Speer symbolisch zerhaut, ist es auch mit der Dame Waldvogel zuende, was darauf hinweisen könnte, dass sie, die dem „Helden“ auch das Schwert zur Monstertötung in die Hand drückt, vielleicht doch von Wotans Gnaden war.
Wieder haben wir es mit dem „Humankapital“ zu tun, das diesmal, da Fafner auf dem Hort sitzt, zum Besitz eines quasi nichts als menschenfressenden Drachen (v)erklärt wird. Die Idee könnte falscher nicht sein. Nein, Fafner ist kein Kapitalist, nein, Fafner nutzt das (Human-)Kapital gerade nicht. Keine Idee könnte dem Schläfer ferner liegen, als mit dem „Gold“ zu arbeiten und mit Hilfe des Ring die armen Kasseler und Kasselanerinnen und Kasseläner zu versklaven. Die Interpretation ist falsch; vermutlich musste sich Dietz fragen, wie er seine 80 lokalen Leute auch im „Siegfried“ auf die Bühne bringt, um dann zum Ergebnis zu kommen, dass die Stelle „nun treff ich auch Fraß“ die ideale Gelegenheit ist, um die Gleichsetzung von Gold und Menschenmasse zu inszenieren. Nur hat noch niemals ein einzelnes Zitat dafür sorgen können, eine grundlegende Konzeption und bühnenbeherrschende Idee zu legitimieren. Was indes für die 80 Leute aus der Kasseler Stadtgesellschaft spricht, sind weniger ihre notorisch bekannten weißen Unterkleider als die pure Präsenz. So falsch die Idee auch sein mag – das Bild, die Masse hinter einem hohen Zaun, die dramatische Beleuchtung im Bühnennebel (als hieße das Stück eigentlich „Der Ring des Nebeljungen“), all das macht aus der sinnwidrigen Interpretation denn doch etwas Schönes. So siegt das sinnliche Theater am Ende über die vom Text nur unzureichend gestützte Ideologie.
Am Ende ist es eh eine Sache der Götter, Urwesen und Zwerge. Egil Silins spielt und singt einen Wanderer von hohen Graden. Der „dürftige Tragöde“ (Ulrich Strohauer über den Wanderer) tritt in Gestalt des alten Karl Lagerfeld auf, mit seiner vor Spannung vibrierenden Stimme erfüllt er die Wissenswette, den Zweikampf mit Bruder Alberich, den Streit mit Erda und den Abschied von der Erde mit dramatischer Inbrunst und sensiblem Pathos. Während Siegfried in einem reichlich plakativen Moment die Hinterwände von Mimes Arbeitshöhle zerstört, erlischt, didaktisch ebenso einschichtig, das Licht-„W“, das uns seit dem „Rheingold“ begleitet hat, wenn Wotan von Siegfried den letzten Bescheid bekommt, bevor sich Brünnhildes white cube zu öffnen hat. So wird, entgegen eigener Aussage vom Beginn an, den vier Werken ein gemeinsamer Boden eingebaut, der nur einen Fehler hat: er ist so deutlich hinweisend, dass das Theater wieder mal zur bloßen Verdoppelung tendiert. Statt dem Spiel herrscht auch hier bisweilen der Vorsatz, alles möglichst genau mit Symbolismen zu erklären, die auf den ersten Blick durchschaubar sind. Anderes aber: siehe oben. Denn was bleibt, stiften vor allem die Sänger. Nicht zuletzt müssen die drei Figuren genannt werden, die jeweils in einem Akt aufzutreten haben: Thomas Gazheli singt einen Alberich, dessen Stimme gaumig klingt, was den dramatischen Einsatz und das Hörvergnügen leider etwas schmählert. Julia Faylenbogen ist eine Erda, der man schon deshalb mit Vergnügen lauscht, weil sie ihre Antworten auf die Zumutungen des Gottes so nobel artikuliert wie sie aussieht: mit langem silbergrauem Haar und einem zeitlos schönem wie schlichtem weißen Kleid, einer Arbeit von Henrike Bromber und der Maskenabteilung des Staatstheaters. Don Lee singt am Ende einen höchst achtbaren Fafner, der finalmente in einer gespenstischen Szene, aufrecht sitzend, neben dem ebenso toten Mime platziert wird, nachdem er im Untergeschoss massakriert wurde.
Und Brünnhilde, die Königin des dritten Akts und des Grand Finale? Kelly Cae Hogan ist eine Sängerin, die die ältere Frau schon deshalb realistisch verkörpern kann, weil zwischen ihr und Brenna der gleiche Altersunterschied herrscht wie zwischen Siegfried und seiner Tante. Jubelrufe also für den Sopran, der die verschiedensten Phasen der merkwürdigen Begegnung von Siegfried und Brünnhilde emotional bewegend gestalten kann – so wie das Staatsorchester, das Wagners reiche Partitur mit vielen Farben und Stimmen, lyrischen Tiefen und dramatischen Gipfelpunkten spannend spielt. „Immer wieder Wagner“, so heißt das Begleitprogramm zum letzten Kasseler „Ring“-Zyklus. Es gilt gerade für Kassel: Immer wieder Wagner!
Frank Piontek, 21. Mai 2023
Siegfried
Musikdrama von Richard Wagner
Premiere am 14. September 2019
Besuchte Vorstellung: 18. Mai 2023
Inszenierung: Markus Dietz
Musikalische Leitung: Francesco Angelico
Staatsorchester Kassel
Sehr beeindruckender Trailer.