Mainz: „Der Barbier von Sevilla“

Auufführung vom 28.09.14

Unterwasser-Schau mit gebremstem Schaum

Der Graf Almaviva taucht in eine Märchenwelt unter Wasser und befreit Rosina aus den Fängen des Kraken

Die Opera Buffa ist im Italien des 18. Jhdts. aus den einaktigen „Intermezzo“-Opern entstanden, die in den langen Pausen der Seria-Opern des Barock leichte Kost boten, in aller Regel mit einem schlauen Dienstmädchen und einem eingebildeten reichen Bürger (beispielhaft: La serva padrona, Die listige Magd, Pimpinone) besetzt. Diese kleinen Musiktheaterstücke dauerten etwa Stunde und wurden zur Kurzweil dem Teil des Publikums dargeboten, das nicht an einer ausufernden Mahlzeit in der Pause teilnehmen durfte. Angereichert mit mehr Personal aus der Tradition der italienischen commedia dell’arte, deren Einfluss auch über Italien hinaus in die Lustspiel-Szene reichte, kam es zu abendfüllenden Opern, in der auch Figuren aus dem einfachen Volk auf der Bühne auftreten und nicht mehr nur die Götter, Könige und Helden der opera seria. Auch suchte man sich für die neue Operngattung Stoffe aus der aktuellen Literatur. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Trilogie von Beaumarchais: Le Barbier de Séville, Les Noces de Figaro und La Mère Coupable, in der die gleichen Personen in den Komödienhandlungen auftreten.

„Le Barbier de Séville oder ou la Précaution inutile“ wurde 1775 in Paris uraufgeführt. Eine sehr erfolgreiche Veroperung des Stoffs von Giovanni Paisiello kam bereits 1782 in St. Petersburg heraus, Mozarts Oper „Le nozze di Figaro“ (basierend auf dem zweiten Teil der Trilogie 1778) schon 1786 in Wien. (Die Musikindustrie arbeitete damals sehr schnell). Als Rossini den Auftrag erhielt, den Barbier von Sevilla neu zu vertonen, wurde es als sehr riskantes, ja sogar provokantes Unternehmen angesehen, sich an dem gleichen Stoff wie Paisiello zu versuchen. Um dessen Werknamen auszuweichen, nannte Rossini sein Werk zuerst „Almaviva o sia L’inutile precauzione. Nach einer von Protesten gestörten Uraufführung im Teatro Argentina in Rom 1816 erlebte die Oper bald einen Riesenerfolg, der bis heute anhält. Paisiellos Werk verschwand hingegen von den Spielplänen, auch weil es musikalisch mit dem sprühenden Buffa-Ton und der Eingänglichkeit der Rossini-Vertonung nicht mithalten konnte. Rossini hatte nur 26 Tage Zeit, um das Stück zu vertonen; deshalb verarbeitete er auch Material früherer erfolgloser Opern, an deren Musik sich schon niemand mehr erinnerte.

vorne: Alexandra Samouilidou (Berta), Yun Seong Shim (Almaviva), Stefan Keylwerth (Fiorello); Chor; hinten stehend: Brett Carter (Figaro)

Rossinis Oper verzeichnete einen Erfolg sondergleichen bis in die heutigen Tage (Operabase gibt für die letzte und die laufende Spielzeit 840 Aufführungen von 176 Produktionen an). Da sind Regisseure und Ausstatter sehr gefordert, sich für diese einfache Geschichte mit ihren klaren Spielorten jeweils etwas Neues einfallen zu lassen, denn sicher hat in jeder Neuproduktion der größere Teil des Publikums die Oper schon einmal gesehen. Die nun in Mainz vorgestellte Produktion, die der neue Intendant von seiner alten Wirkungsstätte in Oldenburg mitgebracht hat und vom Regisseur Ronny Jakubaschk neu einstudieren ließ, bricht mit fast allen der gewohnten szenischen Zutaten (Die Piazza, das Haus, der Balkon, das Musikzimmer, die Treppe, die angestellte Leiter…) und siedelt das Geschehen unter dem Meeresspiegel an. Das ist sicher neu. Weniger neu ist, dass er einen Teil der Figuren als aus der commedia dell’arte stammen lässt. Originell ist die Idee, das Ganze als ein Märchen zu inszenieren: der gute Prinz (Graf Almaviva) befreit die Prinzessin (Rosina) aus den Klauen eines Bösewichts (Bartolo). Schon zu Beginn der Ouvertüre fällt der Vorhang und stellt dem Zuschauer das Bühnenbild vor: eine blaugrün beleuchtete Szene, umrandet von einer in der Mitte durchschlagenen Wand, die sich zuerst ansieht wie der Rand einer zerstörten Sekuritscheibe (Aquarium?), die später aber in weiteren heruntergelassenen Kulissen zu einem korallenartigen Muster mutiert (Bühne und Kostüme: Matthias Koch). Hier tummeln sich nun die Darsteller, die mit Meerestieren Ähnlichkeit haben: Der Chor mit Krabbenscheren statt Händen an einer imaginären Aquariumsscheibe herumtastend, Don Basilio als Meeresschildkröte und Don Bartolo als Krake, dessen Tentakel von der Halskrause herabhängen. Von den ins die Szenerie hineingesenkten Kronleuchtern hängen lange Fangarme wie von eine Qualle herab. Viel Fantasie steckt in den Kostümen.

Brett Carter (Figaro)

In diese märchenhafte Szenerie dringt aus dem Zuschauerraum kommend der in „Zivil“ gekleidete Graf Almaviva ein. Um seine Rosina zu bekommen, lässt er sich ebenfalls als Meeresgetier verkleiden, zwischendurch in einen Hai und zum Schluss mutiert er mit Dreizack zu Nettuno. Es ist klar, dass in dieser Szenerie teilweise deutlich von der den überkommenen Sehgewohnheiten abgewichen werden muss, was a priori kein Problem ist, denn die Inszenierung war mit vielen spezifischen guten (aber auch etlichen flachen) Einfällen angereichert, die von der Zuschauern goutiert wurden. Aber dann haperte es doch bei der Durchführung im Einzelnen. Es wurde zu viel an der Rampe gesungen und gespielt; die Bewegungen der Protagonisten wirkten teilweise verhalten und gehemmt, und einzelnen Handlungselementen fehlte es in dieser Setzung an Schlüssigkeit. Sicher hätte man mit einer spritzigeren Personenführung noch mehr erreichen können. Vice versa eröffnete die ungewöhnliche Szenerie auch die Möglichkeiten völlig anderer gelungener Regieeinfälle, z.B. wenn Alamaviva als Don Alonso als Diszipel Don Basilios mit dessen Meeresschildkrötenumhang auftritt und dafür Basilio anschließend im Unterhemd (hatte Almaviva ihm gar die Kleidung gestohlen?). Das Publikum hatte jedenfalls genug zu lachen, auch wenn es sich teilweise nur um Albernheiten handelte.

Till Toth (Ambrogio), Stefan Keylwert (Fiorello), Alexandra Samouilidou (Berta), Georg Lickleder (Basilio), Peter Felix Bauer (Bartolo)

Das Philharmonische Staatsorchester Mainz stand unter der Leitung des jungen Kapellmeisters Paul-Johannes Kirschner vom Staatstheater Oldenburg. Das Orchester spielte routiniert und konzentriert; aber ein richtiger Rossini-Klang wollte zuerst nicht entstehen. Zur Ouvertüre wurde ein schleppendes Tempo angeschlagen, und dennoch haperte es mit dem Zusammenspiel. Es wurde kein brillant-pfeffriger Rossini musiziert, wenig prägnant seine Stretten. Ein rhythmisierendes Rossini-Feuerwerk wurde nur stellenweise versucht, verlief aber zuweilen im Einklang mit dem ebenso gehemmt wirkenden Bühnengeschehen. Das (endlich) sehr flotte Tempo im ersten Finale führte indes wieder zu deutlichen Unschärfen im Zusammenwirken. Der Herrenchor des Staatstheaters, im Verlauf auftretend wie ein Schwarm Tiefseefische mit jeweils zwei Gehstöcken und Diodenleuchten als Leuchtfaden, war von Sebastian Hernandez-Leverny präpariert.

Geneviève King (Rosina), Youn-Seong Shim (Almaviva), Peter Felix Bauer (Bartolo)

Darstellerisch vermochte von den Hauptfiguren nur Peter Felix Bauer als Bartolo voll zu überzeugen. Stimmlich kam er im kraftvollen tiefen bis mittleren Bereich seines in der hohen Lage für die Rolle etwas hell wirkenden Baritons am besten zu Recht. Als sein Freund und Auftragnehmer Basilio verfügte Georg Lickleder über mächtiges, rund strömendes Bassmaterial. Wegen seiner hünenhaft erscheinenden Gestalt musste man auf eine Stehleiter steigen, um ihm den Kopf zu streicheln; von der Regie war er rollentypisch statisch eingesetzt. Dem Figaro von Brett Carter war in darstellerischer Bewegung eine Rolle zugeordnet, die an Strehlers Arlecchino erinnerte. Obwohl die Inszenierung schon hier und da auf die commedia dell’arte Bezug nahm, passte diese Rolle als Mittelding zwischen Narr und Harlekin gar nicht zum Figaro, und Brett Carter ist Opernsänger und kein Artist. Vermutlich war ihm das schleppende Tempo bis zur seiner normalerweise zungenbrecherischen Auftrittsarie zugestanden; langsamer wirkt das nicht. In Umkehrung der Operntradition sang die tiefere Frauenstimme die Rosina; die war mit dem recht dunkel timbrierten Mezzo von Geneviève King besetzt, die ihre Stimme bestens fokussierte und den großen erforderlichen Stimmumfang sauber beherrschte; darstellerisch blieb sie leider blass. Youn-Seong Shim vom Theater Münster gab einen vorzüglichen Grafen Almaviva; neben seinem schönen Tenormaterial, der sauberen Stimmführung und seinen klaren brillanten Höhen gefiel er auch durch sein fröhliches, lebendiges Auftreten. „Il vecchiotto cerca moglie“ ist die einzige Arie der Berta (Marcellina), die zuweilen gestrichen wird. An diesem Abend aber wurde der reizenden Alexandra Samouilidou vom Jungen Ensemble Mainz die Gelegenheit gegeben, in dieser Arie mit ihrem frischen hellen Sopran zu glänzen. Darstellerisch hatte sie aber eine viel größere Präsenz, meist im Zusammenwirken mit den anderen Untergebenfiguren, nämlich Fiorello (Stefan Keylwerth) und Ambrogio (Till Toth), mit denen sie die Köpfe hinter einem leeren Bilderahmen zusammensteckte und über die Bühne wuselte. Dramaturgisch ein Muster ohne Wert, lockerte aber auf. Milan Stradalski sang den Offizier.

Solistenensemble

Das Haus war in der zweiten Aufführung der Serie gut besucht, und es wurde reichlich Beifall gespendet von einem Publikum mit auffällig vielen jungen Besuchern, das sehr gelöst das Haus verließ. Weitere Termine: 5.11.14, 23.11.14, 17.12.14, 25.12.14, 27.12.14, 30.12.14, 02.01.15, 25.01.15, 30.04.15, 08.05.2015. Übrigens: abgestimmt haben sich die Theater in der Region ohnehin nur selten. Denn am 05.12.14 kommt auf der anderen Rheinseite am Staatstheater in Wiesbaden die dortige Produktion des Barbier heraus, und zwar in einer dort sehr seltenen vierten Wiederaufnahme. Das will etwas heißen.

Manfred Langer, 29.10.2014
Fotos: Martina Pipprich

Der Krieg ist des Menschen Wolf