Mainz: „Nabucco“, Giuseppe Verdi

Premiere: 23.01.2022, besuchte Vorstellung: 29.03.2022

Machtspiele in Mainz

Lieber Opernfreund-Freund,

va pensiero, sull’ali dorate ist wirklich jedem im Ohr; dass es in der dazugehörigen Oper um Machtgier und Machtmissbrauch geht, zeigt Marcos Darbyshire in seiner so intelligenten wie schonungslosen Inszenierung am Staatstheater Mainz. Vortrefflich musiziert wird noch dazu.

Im Kleinen fängt es an. Diese Familie ist nicht von Liebe geprägt, sondern von Angst, Neid und Machthunger. Der an Selbstüberschätzung leidende Vater verfällt zusehends dem (Macht-)Wahn – und ob er am Ende davon wirklich geheilt ist, darf dahingestellt sein. Eine seiner Töchter neidet ihm den Thron und ist dafür bereit, über Leichen zu gehen – auch über seine. Ihr Machtdurst wird genährt aus einem Minderwertigkeitsgefühl ob ihrer niederen Herkunft. Sie ist ein Emporkömmling ohne Ansprüche auf den Thron. Doch umso mehr begehrt sie ihn, verletzt sich in ihrem Machthunger gar selbst. Die andere Tochter wendet sich gleich ganz vom Vater und seiner Welt ab, zuerst aus romantischen Gründen, doch auch, weil sie erkennt, dass sie in diesem Familienkonstrukt kein Glück wird finden können. Diese ungesunde Konstellation setzt sich bei dem aus Argentinien stammenden Regisseur Marcos Darbyshire im Staatengebilde fort, Hebräer wie Babylonier wollen sich im Glanz eines Gottes sonnen. Oder eines Herrschers. Wer das ist und wie er heißt, ist letztendlich zweitrangig, so dass Darbyshire die beiden Völker in seiner Inszenierung verschmilzt. Der Tempel, den Martin Hickmann auf die Bühne des Mainzer Staatstheaters gestellt hat, erinnert an eine Industrieruine. Auch dort finden die Menschen weder Trost noch Geborgenheit, denn die Religion lebt von ihren Gläubigen, Menschenopfer stehen an der Tagesordnung. Zeit und Ort sind unbestimmt, auch wenn die Kostüme von Annemarie Bulla an die Alltagskleidung der 1970er Jahre erinnern. Es könnte überall sein. Es könnte jedem so gehen. Das macht Darbyshire gekonnt deutlich, regelrecht fühlbar, bemüht dafür auch drastische Bilder. Das mag nicht jedem gefallen, doch unbewegt verlässt am gestrigen Abend niemand das Theater.

Das liegt sicher auch an den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern. Ernesto Petti als despotischer Nabucco beherrscht vom ersten Ton an die Bühne, imponiert mir mit seinem gewaltigen Stimmvolumen und findet in den beiden letzten Akten doch immer wieder Mut zu Gefühl und feinem Piano. So zeigt der aus Salerno stammende Bariton nicht nur die zahlreichen Facetten seiner Stimme, sondern auch die Vielschichtigkeit seiner Figur. Marta Torbidonis Abigaille strotzt ebenso vor Kraft, die halsbrecherischen Koloraturen, die die Italienierin dem Publikum entgegen schleudert, lassen ihm den Mund offenstehen – auch mir. Dazu ist Torbidoni eine Sängerdarstellerin par excellence. Mehr Druck als Kraft setzt leider Vincenzo Costanzo als Ismaele ein, den er im Dauerforte über den Graben schickt. Da vermögen die anrührenden Farben in Aya Wakizonos warm timbriertem Mezzo weit mehr zu überzeugen und machen sie zur idealen Fenena. Derrick Ballard zeigt als Nabuccos Gegenspieler Zaccaria seinen imposanten Bass voll satter Tiefe, während Stephan Bootz als Hohepriester die Gier von Abigaille ein ums andere Mal eindrucksvoll anfeuert.

Nachhaltig Eindruck macht auch der Chor unter der Leitung von Sebastian Hernandez-Laverny. Nahezu ständig im Einsatz geben die Damen und Herren alles, formen eine voluminöse Einheit und werden so beinahe der heimliche Star des Abends. Dass der dann doch im Graben steht, wird spätestens beim begeisterten Schlussapplaus deutlich. Kurzfristig ist Gianluca Marcianò für den erkrankten Daniel Montané eingesprungen, präsentiert einen saftigen Verdi voll feinster Nuancen, reiche Farben und hat bei all der klanglichen Pracht doch immer auch ein Ohr für die Sänger. So wird es ein perfekter Abend mit einer Inszenierung, die nachhallt, und bewegend dargebotener Musik, auch jenseits des weltberühmten Va pensiero…

Ihr
Jochen Rüth

30.03.2022

Die Bilder stammen von Andreas Etter.