Meiningen: „Ivan IV“, Georges Bizet

In nur knapp zehn Monaten schrieb Georges Bizet die Musik für die Grand Opéra Ivan IV, beendete das Werk aber nicht ganz und es kam nicht auf die Bühne. Seit über zehn Jahren hegt Jens Neundorff von Enzberg den Gedanken einer szenischen Erstaufführung. Infiziert mit dem Ivan-IV-Virus, steckte er Regisseur Hinrich Horstkotte an, den ohnehin in Vergessenheit geratene Werke interessieren. Die gute Geschichte sowie eine hervorragende Musik schienen es ihm mehr als wert, dass dieser Schatz gehoben werden musste. Der ehemalige Meininger GMD Philippe Bach, „Generalmusikdetektiv“, gelangte auf abenteuerliche Weise an das ungekürzte Notenmaterial und schuf mit seiner Hofkapelle ein Meisterwerk.

(c) Christina Iberl

Der erste Akt beginnt heiter und hell. Frauen in weißen Gewändern mit Blumen im Haar schöpfen Wasser aus den Quellen des Kaukasus. Unter ihnen ist auch Marie, die Tochter des Tscherkessenkönigs Temrouk. Ein junger Bulgare und sein Herr haben sich verirrt und geraten in dieses Idyll. Welch ein Kontrast: Ivan im langen schwarzen Mantel und Pelzkappe auf dem Kopf wirkt furchteinflößend. Aber Marie lädt sie zur Rast ein, und bei dieser kurzen Begegnung verlieben sie sich augenblicklich. Wenige Zeit später überfallen schwer bewaffnete Russen in Uniformen die Tscherkessen und verlangen auf Befehl des Zaren die Herausgabe der Prinzessin. Nachdem sie und andere Mädchen verschleppt wurden, ist Temrouk am Boden zerstört. Jagdhörner ertönen, die Männer in blauen Uniformen kehren von der Jagd zurück und erfahren mit Entsetzen von dem Unheil. Temrouk fleht zu Allah um Hilfe, einen Rächer auszuwählen. Nun liegt es an seinem Sohn Igor, Marie zu befreien und den Zaren zu töten.
Nur dieser erste Akt spielt in einem freien Land, in dem die Werte Natur, Familie, und ein menschenfreundlicher Islam etwas gelten. Nur hier ist ein Stück Himmel zu sehen, man glaubt an eine übergeordnete Macht Allahs und der Ahnen, eine Gegenwelt zu der des Kremls.

Dort spielt der zweite Akt. In einem riesigen düsteren Raum mit schwarzen Wänden sitzt Ivan am oberen Ende eines laaaangen (!) schrägen Tischs, auf dem schon viele Becher auf ein bevorstehendes Saufgelage hindeuten und wäscht sich Blut von den Händen. Yorloff, der Bojare, ist bei ihm. Er steht in der Gunst des Zaren, da er kürzlich Verräter enttarnt hat, die draußen hingerichtet werden. Generäle und Schergen marschieren auf und feuern Ivan an, der den jungen Bulgaren auf dem Tisch brutal missbraucht. Nebenbei verkündet er seine Pläne, wieder zu heiraten. Yorloff hofft, dass er ihm seine Tochter andrehen kann. Doch den Zaren interessieren eher die geraubten Tscherkessinnen, und er lässt die Musliminnen gewaltsam entschleiern. Nur Marie widersetzt sich stolz, beschimpft ihn wegen seiner Gräueltaten und nimmt selbst den Schleier ab. Beide erkennen sich wieder, er ist beeindruckt von ihrer Stärke und Schönheit und wählt sie zu seiner neuen Frau. Aber sie ohrfeigt ihn. Wütend will er ihr Gewalt antun, doch wie eine Dea ex Machina erscheint plötzlich Olga, Nonne und Schwester des Zaren, nimmt Marie unter ihren Schutz und züchtigt ihren Bruder mit dem Kreuz. Niemand wagt es einzuschreiten, und Ivan verfällt dem Wahnsinn.

(c) Christina Iberl

Im dritten Akt, acht Monate später, willigt Marie doch in die Heirat ein. Das Volk, ganz in Schwarz, huldigt Ivan mit Lobesshymnen. Vom Wahnsinn geheilt, präsentiert er sich in prächtiger Robe und lässt Goldmünzen regnen. Während das Paar in der Kirche ist, sieht man Igor vor den Mauern des Kremls. Er ist verzweifelt, weil er Marie nicht finden kann. Dort trifft er auf seinen Vater, der inzwischen auch nach Moskau gekommen ist. Yorloff belauscht sie und verbündet sich mit ihnen. Igor soll nachts ins Schlafgemach des Zaren, um ihn und die Zarin zu töten. Während im Hintergrund die Hochzeitsfeierlichkeiten begangen werden, schwören die drei im Vordergrund Rache.

Der vierte Akt beginnt im Schlafzimmer, symbolisiert durch ein schlichtes schräges Bett, ein großer Stein aus Maries Heimat, das von weißen Vorhängen umgeben ist. Als Ivan weg ist, wird die Ambivalenz ihrer Gefühle noch einmal deutlich. Sie liebt ihren Mann, den sie vom Wahnsinn erlöst hat, der aber der Feind ihres Volkes ist. Sie ist immer noch Tscherkessin, die vorher ein glückliches Leben in Freiheit geführt hat. Ihm zuliebe trat sie zum Christentum über und ist nun gewillt, ihre Rolle als Zarin anzunehmen. Festlich gekleidet will sich das Paar nun dem Volk präsentieren, doch Yorloff steckt Ivan noch einen Brief zu, der eine angebliche Verschwörung Maries gegen ihn andeutet. Igor gelangt inzwischen ins Schlafzimmer der Zarin, die er bei deren Rückkehr erdolchen soll. Zutiefst unglücklich über den Verlust der Heimat, der Mutter, der Schwester, ist er zu allem bereit. Marie kommt zurück, doch die Wiedersehensfreude währt nur kurz, als der Bruder erfährt, dass sie die neue Zarin ist. Mit einem Sprengstoffgürtel am Leib würde er sich opfern. Sie fleht in ihrer Not zur Mutter im Himmel und verhindert damit die Katastrophe. Da erscheint der Zar mit seinem Tross, sieht die beiden Geschwister und glaubt nun tatsächlich, dass sie ein Komplott gegen ihn geplant haben. Er ist zutiefst erschüttert, und als Yorloff Temrouks Angriff und einen Brand im Kreml meldet, verurteilt er Igor und Marie zum Tode. Er bricht zusammen und wird erneut wahnsinnig. Yorloff erklärt ihn für tot und sich zu seinem Nachfolger.

Der fünfte Akt beginnt vor dem Gefängnis. Ivan ist am Leben, er war nur eingesperrt. Es gelang ihm die Flucht, und er trifft Temrouk, der ihn über die tatsächlichen Machenschaften aufklärt. Die Wut über Yorloffs Verrat verleiht ihm wieder Kraft, er gewinnt an Stärke und Macht und verhindert in letzter Minute die Hinrichtung der Geschwister. Er enttarnt den Verräter, auf den schon das Schafott wartet, und am Ende bejubelt ein glückliches Volk Ivan und Marie.

Im Finale fällt ein großes weißes Tuch über die Menge, das in den Farben Gelb und Blau erstrahlt.

(c) Christina Iberl

GMD Philippe Bach bezeichnet diese Oper als ein absolutes Meisterwerk, gleichrangig mit „Carmen“, und Bizet als den „größten Melodienschreiber seiner Zeit“. Eine konstituierende Rolle spielt der Chor unter der Leitung von Manuel Bethe. Drei Viertel der Gesamtzeit agiert er als Volk, verkörpert Russen wie Tscherkessen und gestaltet aktiv und eindrucksvoll das Geschehen, und das in französischer Sprache. Ob es die Frauen an den Quellen, die Männer um den Zaren, die Nonnenprozession oder Soldaten sind – sie verleihen diesem Werk eine Opulenz, die große Wirkung zeigt.

Massenszenen und große Finali machen diese Grand opéra zu einem außerordentlichen Spektakel. Das Orchester unter der Leitung von Philippe Bach spielt hochsensibel und verleiht in vielen Situationen dem Ausdruck, was an Handlung weder gezeigt noch gesungen wird. Jede Figur hat ihr eigenes Leitmotiv. So erkennt man beispielsweise das Böse Ivans an schweren, wuchtigen Klängen, oder in exzessiven, schrillen Phasen den Wahnsinn. Maries Auftreten ist hell, emotional und sehr melodisch, während Yorloff, der wetterwendische Intrigant, chromatisch und schräg charakterisiert wird. Allein die differenzierte und situationsgerechte Orchestrierung ist meisterhaft. Fast alle Partien sind extrem anspruchsvoll und schwer zu besetzen, was auch ein Grund für den Dornröschenschlaf sein könnte.

Im Mittelpunkt steht die Rolle der Marie, welche Sopranistin Mercedes Arcuri atemberaubend sang. Sie ist es, die die unterschiedlichen Situationen stimmlich stimmig gestaltet. Freude oder Wut, Verzweiflung oder Not fordern alle Stimmbereiche in hohem Ausmaß. Koloraturen, Leichtigkeit und hohes Tempo prägen die ersten Arien, später verändern Legatolinien und eine Vielfalt an Tonhöhen den Ausdruck. Bizet mutet seiner Hauptdarstellerin einiges zu. Sie meistert selbst Wahnsinnsarien mit Bravour. Bassbariton Tomasz Wija ist für die Rolle des Ivan erste Wahl, nicht nur optisch. Groß, schmal, mit Bart, langen Haaren und finsterem Blick wirkt er furchteinflößend. Die Vielfalt dieser Figur ist eine Herausforderung, denn sie muss zugleich den Wanderer, den grausamen Herrscher, den Einsamen, den Liebenden und den Wahnsinnigen verkörpern. Kraftvoll, aber auch zart, irre und zurückhaltend erlebt man diese gespaltene Persönlichkeit in faszinierender Intensität. Bassbariton Paul Gay leitet als Tscherkessenfürst souverän das Geschehen. Hochlyrisch, stimmstark und ausdrucksvoll tritt er souverän mit natürlicher Autorität als Anführer seines Volkes, als Priester und als Vater auf. Er ist als Gegenspieler Ivans der Charakterstarke und Symbolfigur für eine positive Weltordnung. Bereits 2002 sang Gay in einer konzertanten Aufführung in Paris diese Rolle. Eindrucksvoll und pathetisch tritt Mezzosopranistin Tamta Tarielashvili als Olga mit ihren Nonnen auf. Absolut authentisch beherrscht sie die pastorale Erscheinung und bezwingt den vor Wut rasenden Bruder. Den Coup, Marie zu retten, genießt sie sichtlich und auch wenn ihr Part nur kurz war, sang sie ihn hochkarätig. Bariton Shin Taniguchi muss als Yorloff den Verräter und Intriganten mimen und verleiht seiner Stimme exzellent etwas Fieses und Hinterhältiges. Als Günstling Ivans und scheinbar Vertrauter spielt er im Kreml eine wichtige Rolle, was er ausnützt. Tenor Alex Kim als Maries Bruder Igor zeigt sich als charismatischer Freiheitskämpfer, der seinen Aufgaben in diesem entsetzlichen Umfeld aber kaum gewachsen ist. Sehr anrührend gestaltet er diesen Charakter und besticht durch die Schönheit seiner Stimme. Sara-Maria Saalmann spielt den jungen Bulgaren, der anfangs mit seinem Herrn im Kaukasus unterwegs ist und später im Kreml Ivan dient. Sie verkörpert diesen völlig verängstigten Knaben, der beim Saufgelage ein rührendes Lied zum Besten geben muss, erschütternd realistisch und das erst recht, wenn sie von ihrem Herrn auf dem Tisch vergewaltigt wird. Trotzdem strahlt sie eine solche Anmut aus, dass man aufspringen und sie da wegholen möchte.

Regisseur Hinrich Horstkotte hat das Potential dieser phantastischen Geschichte von Liebe, Mord, Intrigen, Wahnsinn, aber auch Glück erkannt. Er bleibt in der Zeit, verzichtet auf russische Folklore, die ohnehin Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa keiner kannte, und belässt die Originalfassung in ungekürzter Länge. Die Bühne bleibt ein überwiegend leerer, riesiger Raum. Holzlatten, die mit Licht manipuliert werden, labyrinthisch erscheinen und bewegt werden können, reichen aus. Mehr Interieur würde nur stören, füllen doch die Chöre fast permanent die Bühne. Die Farben Grau und Schwarz dominieren, dies betrifft auch die Kleidung des russischen Volkes. Als Kontrast tragen die Tscherkessen Weiß, Blau und Gelb. Nur die Krönungsgewänder von Zar und Zarin sind authentisch prachtvoll nach historischen Vorlagen.

Dass diese fünfaktige szenische Erstaufführung der Originalversion ausgerechnet auf den Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine fiel, ist Zufall, denn der Spielplan stand zu jenem Zeitpunkt längst fest. Auch sucht man vergeblich nach Putinschelte oder Parallelen zum aktuellen Geschehen. Nur ganz ganz wenige Details geben Raum für entsprechende Interpretation.

Es ist ein Meisterwerk eines hochtalentierten Komponisten, der, wäre er nicht so früh gestorben, auf allen Bühnen als einer der ganz Großen gefeiert würde. Das Meininger Publikum tat dies mit Empathie und Begeisterung, denn diese wunderbare Oper ist ein Geschenk.

Inge Kutsche, 27. Februar 2023


Ivan IV
Georges Bizet
Deutsche szenische Erstaufführung der fünfaktigen Fassung

Staatstheater Meiningen
Besuchte Premiere: 24.02.2023
Regie, Bühne, Kostüme: Hinrich Horstkotte

Musikalische Leitung: Philippe Bach
Chor: Manuel Bethe
Meininger Hofkapelle
Weitere Vorstellungen: 04.03. | 11.03. | 27.04. | 28.05. | 23.06. | 28.06.