Meiningen: „Jekyll & Hyde“, Frank Wildhorn

Wer sich öfters das Filmangebot bei Tele 5 ansieht, weiß, dass Gruselszenarien wohl zu den populärsten Inhalten gehören. Über die zweifelhafte Qualität vieler dieser Produktionen braucht man kein Wort zu verlieren. Aber wenn ein Theater den Horrorklassiker „Jekyll and Hyde“ auf den Spielplan setzt, noch dazu als Musical unter der Regie von Cusch Jung, dürfte das ein volles Haus garantieren.

© Christina Iberl

Den Urstoff lieferte der schottische Schriftsteller R. L. Stevenson in seiner Novelle „The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“ 1886, die mehrfach verfilmt wurde. Aber erst die Amerikaner Frank Wildhorn und Leslie Bricusse schufen 1990 ein Musical, das nicht nur in den USA Rekordlaufzeiten hat. Klassik light, Rock und Pop, instrumentale Vielfalt und perfekter Underscore schaffen eine Metaebene, die drei Stunden in Atem hält. Nebel und Rauch, Flammen und geniale Lichttechnik gestalten diese Aufführung zu einem hochemotionalen Ereignis, das dem Ensemble des Hauses die perfekte Bühne bietet. Multitalent Cusch Jung inszeniert das Stück zum dritten Mal, nach Tecklenburg und Leipzig nun in Meiningen. Und wie erfreulich: Er belässt die Handlung in London, im viktorianischen Zeitalter, die Kostüme sind dementsprechend, und zeigt die Gegensätze zwischen Reich und Arm. Es fällt nicht schwer zu sehen, auf welcher Seite er steht, wenn er die bodenlose Arroganz, das vornehme Getue und die Doppelmoral der Oberschicht überspitzt darstellt.

Dr. Jekyll ist besessen von der Idee, die menschliche Psyche durch Medikamente zu beeinflussen, und damit das Böse vom Guten zu trennen. Doch es gelingt ihm nicht, das Gremium des Krankenhauses von der Notwendigkeit der Tests an Patienten zu überzeugen, auch wenn sein zukünftiger Schwiegervater dort Einfluss hätte.

© Christina Iberl

Nach der Verlobungsfeier mit Lisa schleppt ihn sein Anwalt und Freund John Utterson in das Edelbordell „Rote Ratte“. Rotes Licht, rote Tableaus, auf denen sich die „Mädchen der Nacht“ in verführerischen Kostümen räkeln, bedienen das Klischee der verruchten Spielwiese für die noblen Herren. Anna Langner als Lucy ist in diesem Etablissement der Star. Sie hat übrigens nicht nur in dieser Szene mit „Schafft die Männer ran“ enorme Bühnenpräsenz. Jekyll ist beeindruckt und bietet ihr Hilfe an, falls sie die einmal benötigen sollte.

Noch in derselben Nacht – „Das ist die Stunde“ – startet er den Selbstversuch, um sein Projekt zu verwirklichen. Hochdramatische Hintergrundmusik, Glockenschläge, entfesseltes Licht und infernalische Geräusche begleiten die Transformation von Jekyll in Hyde: ein vor Kraft und Lebendigkeit strotzendes Monster. Tagsüber experimentiert der Wissenschaftler, um die effektivste Zusammensetzung seines Psychedelic-Cocktails zu finden, nachts ergreift sein Alter Ego, das Böse, Besitz von ihm und lässt ihn bestialisch morden.

Florian Minnerop spielt in einer Doppelrolle den engagierten, seriösen Arzt Dr. Jekyll, der zutiefst edle Beweggründe hat und verwandelt sich dann nur durch das Lösen eines Haargummis in einen gefährlich entfesselten Killer, Mr. Hyde, der fast das gesamte Hospitalsgremium meuchelt. Mucksmäuschenstill wird es im Publikum, wenn diese Figur mit wirrem Haar, entstellter Fratze und rauer Stimme drohend und angsteinflößend ihr Unwesen treibt. Sein erstes Opfer ist der Bischof von Basingstoke, eine Paraderolle für Johannes Mooser, der als schweinheiliger Kleriker die Damen begrapscht und dem der Sabber von den Lefzen trieft, wenn er sich in der „Roten Ratte“ an einem kleinen Mädchen vergehen darf. Auch Hyde zieht es dort hin, weil er Lucy begehrt. Als diese dann bei Dr. Jekyll Hilfe sucht, ahnt er, wer sie misshandelt hat. Sie aber erlebt bei ihm – „Jemand wie du“ – ein kleines Glück und träumt von einem anderen Leben. Deshalb schickt er seinen Freund John zu ihr, der sie dazu drängen soll, die Stadt schnell zu verlassen. Aber zu spät. Anna Langner spielt auch diese Seite Lucys ganz natürlich und fast anrührend.

© Christina Iberl

Weitere Morde geschehen, die Angst geht um, nicht leise. Hier zeigen der Choreograph Cusch Jung zusammen mit Chorleiter David Rothenaicher ein stimmgewaltiges Volk in Aufruhr mit ausdrucksvoller Körpersprache. Auch den Aristokraten gelingt es nicht ganz, hinter gestelzter Fassade ihre Furcht zu verbergen. Marianne Schechtel sei in diesem Klüngel als Lady Beaconsfield, eine hyperaffektierte Zicke mit schriller Stimme, besonders hervorgehoben, die als Karikatur dieser Gesellschaftsschicht ganz dick aufträgt. Auch sie erwischt es. Jekylls Verlobte Lisa sieht wohl, dass er sich verändert, gesteht ihm jedoch in uneingeschränkter Liebe zu, dass seine Arbeit ihm momentan wichtiger ist. Sara-Maria Saalmann zeigt sie als selbstbewusste junge Frau, die sich weder um Konventionen, noch um Unkenrufe ihres Vaters schert. Und doch klingen im Duett mit Lucy in „Da war einst ein Traum“ ihre wahren Gedanken an.

Wie im Fieber, verzweifelt, experimentiert Jekyll weiter, doch wird ihm klar, dass das Böse in ihm längst die Macht übernommen hat. Einzig sein Freund John sieht seine Zerrissenheit, aber erfasst kaum die Situation. Cusch Jung selbst ist John Utterson, der als untadelige, fast emotionslose Person eine feste Größe in dieser Gesellschaft ist. Ihm vertraut der Wissenschaftler seinen Nachlass an und warnt ihn. Aber nichts kann Hyde aufhalten. Ein rasendes Spektakel, Lichtblitze und monströse Klanggewitter gipfeln in dem Mord an Lucy. In einer höchst ergreifenden Szene beweinen alle Prostituierten deren Tod. Nellie, die Chefin des Clubs, nimmt mit dem zu Herzen gehenden Song „Die Mädchen der Nacht“ Abschied. Marianne Schechtel in der Doppelrolle ist hier das ganze Gegenteil zu ihrer Lady Beaconsfield. In einem finalen Zweikampf zwischen dem Guten und dem Bösen bahnt sich das Ende des missglückten Experiments an. Tatsächlich geht Jekyll noch zu seiner Hochzeit mit Lisa, wo Hyde von ihm Besitz ergreifen will und wählt den Tod.

Wahrscheinlich gab es keinen im Publikum, dessen Adrenalinspiegel nicht stieg, denn dieses Musical ist ein echtes Meisterwerk an Spannung, guten Songs, brillanter Licht- und Bühnentechnik. Nichts ist blanke Revue, alles ist bis ins Detail ausgefeilt und stimmig. Das gilt auch für den von Karin Fritz sparsam, aber originell möblierten Bühnenraum sowie die Kostüme von Sven Bindseil. Regisseur Cusch Jung, der auch die Choreographie und das Licht gestaltete, inszeniert nicht von ungefähr in Meiningen, denn er kennt bereits die hohe Professionalität des Ensembles. Und wieder bewies die Meininger Hofkapelle unter der Leitung von Kens Lui, dass sie auch und gerade in diesem Genre weit mehr als Unterhaltungsmusik produziert. Die instrumentale Differenzierung harmoniert mit dem Geschehen auf der Bühne, sensibilisiert Antennen und wirkt hochemotional. Frank Wildhorn würde bestimmt seinen Hut ziehen.

Ohne zu übertreiben, wird dieses Musical wohl der Knaller der Saison.

Inge Kutsche, 8. Dezember 2024


Jekyll & Hyde
Musical von Frank Wildhorn und Steve Cuden
Texte von Leslie Bricusse

Staatstheater Meiningen

Premiere am 6. Dezember 2024

Regie: Cusch Jung
Musikalische Leitung: Kens Lui
Meininger Hofkapelle