Große Oper in drei Aufzügen von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha
Premiere am 18.02.2022
Aus welchem Grund ruht ein Werk fast 100 Jahre in der Versenkung? War es die Eintagsfliege eines unbekannten Komponisten mit schwachem Inhalt und unpopulärer Musik? Spielten historische Ereignisse oder mangelnder Pioniergeist eine Rolle, etwas Altes in der Gegenwart zu präsentieren?
Wenn Intendant Jens Neundorff von Enzberg sich auf die Suche macht und Raritäten ausgräbt, wird das spannend. Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha brachte ab 1854 seine Oper „Santa Chiara“ erfolgreich auf über 25 Bühnen, darunter Paris, Wien, London, Berlin. Die Musik entzückte ob ihrer Polystilistik das Publikum. Sie erinnert an Bellini, Donizetti, Carl Maria von Weber, Lortzing, enthält deutsches Liedgut und Wagnersche Dramatik. Das Libretto verfasste Charlotte Birch-Pfeiffer, damals eine Art Rosamunde Pilcher ohne Opernerfahrung. Seltsamerweise stimmt es kaum mit dem Geschehen auf der Bühne überein und kommt auch etwas trivial daher.
Seit 1927 liegt es in der Schublade, gilt als altmodisch, zu langatmig und gestelzt. Genau da liegt der Reiz, aber auch die Verantwortung, solche Kleinodien gegenwartstauglich zu gestalten und sie einem breiten Publikum zu erschließen. Gelingt es dem Regisseur, Charaktere zu entwickeln, die in romantischer Verkleidung in phantasievoller und dynamischer Kulisse zu Ikonen zu werden, greift das, wenn überdies die eingängige Musik in Bauch, Herz und Geist fließt. Die Bühne dreht sich unaufhörlich und nimmt Darsteller und Zuschauer mit auf eine Reise. Es gibt keine Längen. Ständig wechselnde Bilder und Räume, kurze Arien, überschaubare Handlung kommen dem Anspruch vieler entgegen, die Oper sonst langweilig finden. Ich glaube nicht, dass Ernst II. sich über diese „Light-Version“ seines Werkes ärgern würde, denn diese Interpretation zeigt wahrscheinlich mehr Tiefe als damals. Regisseur Hendrik Müller und Bühnenbildner Marc Weeger kreierten zusammen mit GMD Philippe Bach ein Klangjuwel in aparter Fassung.
Schon die Ouvertüre verheißt: Hier war kein Dilettant am Werk, und wer jetzt ein karg minimalistisches Bühnenbild mit Protagonisten im Businesslook befürchtet, wird angenehm „enttäuscht“. Ein dunkles, sattes Rot symbolisiert Macht und Stärke des Zarenhofes, das Interieur ist sparsam Ton in Ton und konzentriert den Blick. Auffällig sind die vielen Türen in den Wänden, durch die die Personen von Raum zu Raum, von Szene zu Szene getrieben werden wie gleich im ersten Aufzug, als die Geburtstagsfeier für Fürstin Charlotte stattfindet. Statt im Kreis von Familie und Gästen zu feiern, bleibt sie für sich. Alexej, mit dem sie aus politischen Gründen verheiratet wurde, verabscheut sie und will sie loswerden, um mit seiner Mätresse zu leben. Grotesk böse geschminkt mit gewaltiger Haartolle soll er zwar furchteinflößend wirken, doch fläzt er wie ein infantiles Riesenbaby auf rotem Plüsch, gefangen in seiner Rolle, neben sich seine Mutter, die gleich der „Queen“ keine Regung zeigt und beziehungslos zu ihrer Umgebung einfach nur dasitzt und raucht. Der Chor als feine Abendgesellschaft wartet im nächsten Raum vergeblich auf Charlotte. Chevalier Victor, der sie verehrt, ist blind für die Schönheiten des Lebens. Im Hintergrund tut sich ein Märchenwald auf, in dem eine überirdisch schöne Fee umgeben von Tieren eine heile Welt symbolisiert. Aber er beklagt sein unerfülltes Dasein.
Patrick Vogel verkörpert diesen Jammerlappen nicht als kraftvoller Tenor, sondern gequält authentisch. Aurelius, der Leibarzt Alexejs, soll die Fürstin an diesem Abend mit einem Gifttrunk ins Jenseits befördern. Jahre gedemütigt, verachtet und unbeachtet in Kälte und Einsamkeit, Lieblosigkeit und Grausamkeit fürchtet sie nicht, was ihr bevorsteht. Sie sieht sich schon in der Zielgeraden zum Tod und scheint sich sicher zu sein, dass da etwas Besseres auf sie wartet. Sie vermittelt keineswegs das Bild einer schwachen und zerstörten Persönlichkeit, sondern tritt selbstbewusst auf, zeigt Haltung und verweigert die Aufnahme der Mätresse ihres Mannes in den Hofstaat. Lena Kutzner, Sopran, spielt diese Figur mit Distanz, ohne starr zu wirken. Da Bewegung und Mimik sehr zurückgenommen werden, konzentriert man sich umso mehr auf die Emotionalität ihrer großartigen Stimme, die jede Regung sensibel darstellt. Zwischen all den in sich gefangenen Personen zeigt Bertha, die liebende Freundin, Lebendigkeit und Zuneigung. Marianne Schechtel, Sopran, schlüpft souverän und wirkungsvoll in diese Rolle. Sie warnt und rät vergeblich zur Flucht. Schon wartet der Arzt mit dem Gift, der Chor singt freudig vom Trunk, Charlotte greift beherzt zu und stirbt. Im zweiten Aufzug liegt sie im Sarg, die Drehbühne steht still. Bertha singt von ihrer unerfüllten Liebe, Viktor ist fassungslos und schwört Rache, Alexej in pompösen Frauenkleidern ist froh, dass er sie los hat, wittert jedoch Mordanschuldigungen und fürchtet „der Reue Schlangen“ oder dass sie gar nicht tot ist.
Der Pope lümmelt neben dem Leichnam und will sie bald beerdigen. Die Bläser intonieren die Szene mit einem Choral, im Hintergrund erhebt sich ein Mann in weißem blutbespritztem Gewand, Christus, der die scheinbar Tote aufweckt. Triumphierend entsteigt sie dem Sarg. Im dritten Aufzug wechselt das Geschehen in eine andere Welt. In einer Art Zirkusarena mit mehreren Ebenen lustwandeln verklärte Frauen und Männer, beide in weißen Brautkleidern, singen, beten, verteilen Brot und warten auf ihre Heilsbringerin. Im Blütenring schwebt Charlotte herab, glückselig strahlend, und vollbringt als Santa Chiara Wunder, lässt sich anbeten und kassiert Spenden. Bertha und ein Diener koordinieren die Rituale. Auch Victor verschlägt es zu dieser Kulttruppe und darf ihr beitreten. Noch einmal erscheint Alexej, nun vollends verrückt, bringt im Wahn wider Erwarten seine Geliebte um und provoziert damit sein eigenes Ende. Johannes Mooser lässt sich überzeugend in diesen kranken Charakter fallen und singt einen sehr eindrucks- und kraftvollen Bariton, der alle Facetten von Gemeinheit und Bosheit, Wahnsinn und Angst stimmlich hingebungsvoll präsentiert. Alle Macht liegt nun bei Chiara, deren Jünger ihrem begeisternden Aufruf zum Mord lustvoll folgen: „Lasst uns richten!“
Schon im Original wurde bemängelt, dass der Text teilweise recht wenig mit den Geschehnissen auf der Bühne zu tun hat. Dies gilt besonders für den ersten und zweiten Aufzug, weniger für den dritten. Deshalb war es schon eine Mammutaufgabe für Regisseur, GMD und Bühnenbildner, hier eine Beziehung zu schaffen. Jeder für sich hat nun die Wahl, wie er das einsortiert. Interpretationsansätze gibt es genug. Ist es Sehnsucht, Anspielung auf eine Welt, die von den Protagonisten nicht wahrgenommen wird? Die auffällig zahlreichen liedhaften Beschreibungen der Natur, die Verehrung des deutschen Landes lenken ab von den Machenschaften Gestörter hin zu einer schlichten Betrachtungsweise des Lebens. Es sei dem Zuschauer geraten, weniger auf das Textband zu achten und sich ganz dem Geschehen zu widmen. Nur so erfasst er die Entwicklung der Figuren, hat Muße, die ausgefallenen und prächtigen Kostüme zu betrachten, die teils märchenhaft opulent, aber auch modern und witzig sind. Nur so bleibt Zeit, dem raschen Wechsel von Raum zu Raum zu folgen und kuriose Details auszukosten, wenn zum Beispiel Christus sich nach getaner Auferweckung ein Zigarillo aus der Dornenkrone holt und genießt, Statisten mit schillernden Tiermasken plötzlich in Räumen auftauchen oder Bertha unter Chiaras Followern eimerweise Geld und Schmuck einsammelt.
Es ist ein Leichtes, sich der wunderbaren Musik hinzugeben, langatmige Rezitative wurden gestrichen, Arien verkürzt und die Hofkapelle intoniert sehr vielschichtig die Ereignisse, ohne sie zu dominieren. Ganz im Sinne von Ernst II. entstehen die unterschiedlichsten romantischen Klangszenarien in perfekter Harmonie mit dem Geschehen.
Niemand will eine Traviata, eine Carmen oder einen Holländer aus dem Programm schmeißen, aber wie bereichernd und spannend wäre es, wenn mehr Häuser dem Meininger Beispiel folgen würden und solchen Raritäten einen festen Platz im Spielplan reservieren.
Inge Kutsche, 21.2.22
Fotos: Christina Iberl