Nürnberg: „Hänsel und Gretel“

Premiere: 2.11.2014, besuchte Vorstellung: 9.12.2018

Zum Weinen schön und ergreifend

Wäre der Rezensent ein übler Sentimentalist, würde er zugeben, dass er nicht der einzige war, der spätestens mit dem Auftritt des Sandmännchens bemerken musste, das sein Blick auf die Bühne bis zum Schluss des 1. Akts durch plötzlich eintretende Tränenflüssigkeit empfindlich gestört wurde. Dabei ist es doch gerade die Kombination aus genialer, stets überwältigender Musik und einer ausgefuchsten und hochpoetischen Bildkraft, die den mehrmaligen Besuch der 2014er-Produktion von „Hänsel und Gretel“ im Nürnberger Staatstheater immer wieder zu einem Erlebnis macht. Mehr Rührung geht in der Oper schlicht und einfach nicht; wer’s nicht glaubt, möge sich in die Vorstellung setzen und das Schniefen reihum wahrnehmen, das man sogar hört, wenn die an diesem Abend (die Hörner…) leider nicht ganz waldrein intonierende, sonst aber phänomenal lebendige Staatsphilharmonie Nürnberg unter Guido Johannes Rumstadt den Regler hochstellt, bevor und wenn der Nürnberger Jugendchor des Lehrergesangvereins (unter der Leitung von Klaus Bimüller) zuletzt seinen zunächst zarten und rührenden, dann springlebendigen Auftritt hat.

Über die Inszenierung Andreas Baeslers, die in einer Kopie des Hauses Wahnfried beginnt, sich dann in einen surrealen – aus den Horrorvorstellungen eines von der bösen Haushälterin unterdrückten Geschwisterpärchens gewobenen – Fantasiewald inmitten des plötzlich aufgebrochenen Raums begibt, um am Ende unversehens, aber nachvollziehbar wieder im bürgerlichen Elend des Pleitemachers der Familie Besenbinder zu enden: über diese hochmusikalische und feingesponnene wie bildmächtige Inszenierung wurde hier schon zweimal geschrieben. Was neu ist, sind die meisten Sänger, die in der gerade begonnenen Intendanz Jens-Daniel Herzogs zum ersten Mal die Nürnberger Bühne betreten haben.

Noch immer aber stehen der phänomenal wortverständliche und stimmschöne Bariton Jochen Kupfer und der Hänsel der Irina Maltseva im realen Raum und im Märchenwald des bürgerlichen Traumheims. Beide zeigen das Staatstheater auf dem hohen Niveau, das es in der Intendanz Peter Theilers errungen und ersungen hat. Neu ist Emily Newton. Wie wandlungsfähig sie zu agieren und zu singen vermag, zeigt sich schon, im Vergleich zur Hausherrin in der Villa, an ihrem Nürnberger Einstand als Busenmodell Anna Nicole Smith in Turnages Meisteroper. Größer könnte der Abstand zur Gertrud nicht sein, was nicht nur an Maske (Helke Hadlich, Gerti Hauser) und wilhelminischem Kostüm (Gabriele Heimann) liegt. Emily Newton singt eine charakterstarke, wenn auch verständlicherweise labile Frau (und es ist immer wieder schön, zu bemerken, dass ein Satz wie „Ja, da liegt nun der gute Topf in Scherben“ sich in der Lesart Andreas Baeslers und seines Ausstattungsteams nicht auf die kaputte Keramik bezieht. Ebenso hellsichtig und tiefsinnig wirkt ja auch Hänsels schlichtes „Gretel, ich weiß den Weg nicht mehr“). Schade nur, dass Emily Newton nicht immer so wortverständlich singt, wie es die vielen kleinen und großen Kinder in der Nachmittagsvorstellung verdient haben. Gretel aber ist die beste Trumpfkarte dieser Stunden. Julia Grüter verbindet Natürlichkeit mit einer glasklaren Artikulation, spielt gut, sieht dazu noch gut aus – Opernherz, was willst du mehr?

Almerija Delic, die als Bolkonskaja in der fulminanten Intendanzeröffnungspremiere „Krieg und Frieden“ auf sich aufmerksam machte, spielt, um es mal missverständlich auszudrücken, die Hexe gleichsam rollendeckend, wofür nicht allein ihr teuflisch-groteskes Gelächter spricht. Fast wirkt sie gemütlicher als Leila Pfister, die 2014 die Rolle in dieser Inszenierung kreiert hat, doch ganz gewiss: „You love to hate her“. Bleiben die beiden Männchen: mit Nayun Lea Kim wurden diese beiden „kleinen“, aber unverzichtbar wichtigen „Nebenrollen“ vollkommen besetzt.

Also: Wir, die Schniefer und wohl auch die, die vor soviel Schönheitszauber trocken bleiben können, freuen uns schon auf die nächste Wiederaufnahme dieser zugleich kindgerechten wie erwachsenentauglichen Inszenierung. Wie sagt Hänsel nach der Traumpantomime: „S’war wunderschön.“

Man kann es nicht besser ausdrücken.

Frank Piontek, 10.12.2018

Fotos: © Jutta Missbach