Nürnberg: „Anna Nicole“

Premiere: 3.11.2018

Sie war vielleicht das einzige „Model“, dem das Playboy-Magazin jemals eine einzige exklusive Sonderausgabe gewidmet hat. Sie: Das war Anna Nicole Smith. Bürgerlich (soweit man diesen Begriff angesichts der prekären Verhältnisse im Süden der USA verwenden kann) geboren und getauft auf den Namen Vicki Lynn Hogan, war für einige Jahre das bekannteste Busenmodell – kein Werk der Natur, sondern eines der Plastischen Chirurgie. Wer ihre letzten Auftritte im US-amerikanischen Fernsehen miterleben konnte, und wer heute diese grausigen Dokumente einer Selbstzerstörung auf Youtube anschaut, ahnt allerdings, dass der kurzlebige Ruhm dieser Frau schon auf Trümmern erbaut wurde.

Der britische Komponist Mark-Anthony Turnage und der Librettist Richard Thomas haben 2011 eine Oper über eben diese Frau auf die Bühne gebracht, die 2013 in Dortmund ihre deutsche Erstaufführung erlebte. Genau diese Produktion ist nun samt praktikablem Bühnenbild (Frank Hänig und Norman Heinig haben zunächst einen großen leeren Raum mit einem US-amerikanischen Deckenneonstern gebaut) in Nürnberg zu sehen, da der heutige Intendant Jens-Daniel Herzog damals und dort Regie führte. Selbst die Anna Nicole der Dortmunder Produktion steht heute auf der Nürnberger Bühne – glücklicherweise, denn sie erspielt sich auch hier einen riesigen Erfolg. Turnages Musik nämlich geht so unter die Haut wie der exzessive Verfall der einstigen Trash-Diva, die ihren Ruhm mit gesundheitlichen Problemen, damit einhergehendem Tablettenkonsum, nicht zuletzt mit der Selbst- und Fremdausbeutung dessen bezahlte, was sie für ihr Leben hielt. Spektakulär wurde die Live-Übertragung der Geburt ihres zweiten Kindes im Bezahl-Internet, schauderhaft blieb der Drogentod ihres geliebten Sohns, den sie eines Morgen leblos neben sich im Bett fand. Sie selbst starb, wie ihr großes, nie erreichtes Vorbild Marilyn Monroe, an einer überhöhten Dosis Tabletten. Was bleibt, sind viele Nacktbilder mit ihrem künstlich aufgeblasenen Busen, vielleicht die Erinnerung an Film- und TV-Auftritte, die schlicht und einfach zum Fremdschämen waren – und die Trauer über ein letzten Endes, im grellen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit ausgestelltes verpfuschtes Leben. Warum sollte man darüber eine Oper machen?

Weil sie vielleicht als Spezial-Fall – ja, es war buchstäblich ein Fall – etwas sehr Typisches zeigt und vor allem: weil es vielleicht allein die Oper ist, die uns für zwei Stunden tief hinein zieht in ein Leben, auf das wir schlussendlich weniger mit Häme als mit (freilich nutzlosem) Mitleid sehen. Die blendend gut singende und zwischen Aufbegehren, Triumph und Verzweiflung genau agierende Emily Newton macht das aber auch fantastisch. Ist sie im ersten Teil des dramaturgisch relativ (!) einfachen wie konsequenten Bilderbogens vom Aufstieg und Fall einer „Ikone“ das selbstbewusste Mädchen aus der Provinz, die in einem einzigen Moment, der in seiner melodischen und harmonischen Schönheit zweiffellos scheint, tatsächlich glaubt, dass sie „es“ schaffen wird, so sehen wir ihr im zweiten Teil beim Untergang zu. Wir machen das nicht genüsslic, aber mit Turnages spannender und facettenreicher Musik im Ohr haben wir ein ästhetisches Vergnügen an dieser im Grunde schrecklichen Geschichte aus dem Speckgürtel kaputter Familienverhältnisse und amoralischer Verwertungsmethoden eines Menschenlebens. Dass eine Zwischenszenenmusik im 2. Teil, nach der es gleich noch schlimmer kommen wird, wie eine Zwischenaktmusik aus dem „Wozzeck“ klingt, ist gewiss ein Zufall, passt aber zur Idee dieser Oper: Sie ist eine Passionsgeschichte; die Auferstehung der zunächst toten Anna Nicole, die sogleich anfängt, dem Chor, also uns allen ihr Leben zu erzählen, geht mit einem „Requiem aeternam“ vor sich. Vergebliche Hoffnung, für Anna Nicole gibt es, scheint’s, keine Erlösung. „Sie vergewaltigt den amerikanischen Traum“, heißt es an einer Stelle des mit Slangjargon reich gesegnetem Libretto. Nein, der Traum, der ein Albtraum war, hat sie vergewaltigt, indem sie einen Greis ehelichte, sich in unsinnige und schließlich verlorene Erbschaftsgefechte begab und am Ende ihrem eigenen Verfall zusehen musste. Dabei war sie am Anfang doch das, was der Dramaturg Georg Holzer als „vulgäre Schönheit“ bezeichnete. Wir schauen also gebannt dabei zu, wie die Frau, die auf Teufel komm raus ein „Star“ werden wollte (und es eine Weile auch war), mit den Gesetzen des Neoliberalismus im Kopf ihren Körper, damit auch ihre Seele missbrauchte. Damit ist sie definitiv nicht der Marie Duplessis, also Verdis Traviata vergleichbar – aber ähnlich ist die Stellung der Frau im Geflecht einer mörderischen Unterhaltungsgesellschaft, die sich einen Teufel um die sog. Würde des Menschen schert und am Ende elend krepiert.

Und doch verstehen wir – Effekt der Kunst – dieses Mädchen. Natürlich, sie will raus aus der „Familien“-Hölle. Natürlich, wenn man als Lap-Dance-Girl mit kleinen Brüsten keine Karriere machen kann, müssen größere her, und wenn einem ein mephistophelischer Doc einredet, dass Größer besser ist als Groß: dann macht frau es eben (großartig und neu im Nürnberger Ensemble: Tadeusz Szlenkier, der schon in „Krieg und Frieden“ auffiel). Das „nihilistische dunkle Märchen“ wird erzählt mit den Mitteln der Revue, des Musicals und der Großen Oper, aber es ist weder das eine noch das andere. Der Stilmix, der nur scheinbar ist, wird zusammengehalten vom bisweilen grausamen Witz und der Dignität der orchestralen Tonsprache, in der die Pop-Phrasen und -Klänge wie Zitate aus einer – und auch das ist nur scheinbar – besseren Welt klingen. Das Musical des 1. Teils besteht aus musikalisch angeschrägten Nummern, bevor zuletzt das Finale die pure Verzweiflung und Trauer über diesen „Aufstieg“ herausschreit: mit Mollbrüllereien des schweren Blechs in Forte. Herrlich! (sagt der Opern-Gourmet). Bläst Anna Nicole ihrem bald 90jährigen Ehemann keinen Kuss entgegen – dies macht sie erst in der letzten Sekunde der Oper, in der sie schon tot ist -, sondern etwas durchaus Anderes, wird der „act“, den wir nicht sehen, nur ahnen (denn, das ist wirklich tricky, der Chor umgibt die Szene und kommentiert die ersten Versuche dieses Blaskonzerts mit einer ironischen Pantomime), scheinbar von einer „coolen“ Barmusik begleitet. Allein das ist schon böse – und sehr, sehr gut komponiert. Doch erliegt das Werk nicht der Versuchung, die seltsame Ehe zu denunzieren. Im Gegenteil: Wir verstehen sowohl die geldgeile Anna wie den alten Herren, der in seiner Sterbeszene zu schönsten lyrischen Tönen des Abschieds vom Leben findet. Jeff Martin spielt und singt diesen durchaus beeindruckenden, lebenslustigen alten Knacker: durchaus beeindruckend, vielleicht und notwendigerweise ein wenig grotesk.

Komplett grotesk ist nur die Sterbehilfe Annas, die den Greis zum Sarg geleitet und den Deckel eigenhändig schließt. Richtig grausam aber ist das, was die Mutter Anna Nicoles – eine Frau, die permanent in ihrer Polizistenuniform agiert – immer wieder herauslässt. Ein musikalisch-dramatischer Höhepunkt des Werks: Ihre Verfluchung der Männer, vor auf dem Steg, während hinten Anna Nicole gerade Mr. Marshall heiratet. Gänsehautmusik und -stimmung mit der zurecht umjubelten Almerija Delic. Ach, ich liebe die US-amerikanische Oper, wenn sie so stark über Rampe und Steg kommt. Sie ist so unkompliziert – und so effektvoll.

Zeichnet der zweite Teil, wie gesagt, den Fall der Anna Nicole nach, so gibt es doch auch hier noch Musikszenen, die an einen Rossini von Heute erinnern: das brillante Lachterzett in der TV-Show, in der die Frau mit ihren Lieblingen, den Hunden telefonierte, und der Fress-Walzer: die tragisch aufgeschwemmte Anna, umgeben von den Schemen und Figuren ihrer Vergangenheit, die – das ist banal, aber so ist eben meist die Welt – mit Pizzakartons um sie herum tanzen. Weiter zu loben: die 8 Lap-Dance-Solistinnen – kein Walküren-Oktett, sondern eine Riege von auch mal lyrisch gestimmten Damen. Bis auf Nayun Lea Kim stammen sie alle aus dem glänzenden Chor des Staatstheaters, der diese Chor-Oper unter der Leitung ihres Chefs Tarmo Vaask bravourös singt. Richard Morrison singt und spielt gut böse den schlimmsten Buben in dieser Geschichte: den Anwalt Howard Stern, definitiv kein Freund der Anna Nicole. Der Rest des Ensembles muss sich diesmal mit musikalischen Mucken begnügen, auch wenn sie lange auf der Bühne stehen. Selbst Martin Platz hat in der Hauptnebenrolle des ersten Sohns, kurt nach seinem Tod, wenig mehr als eine Medikamenten- und Drogenliste zu singen.

Und schliesslch ist es eine reine Freude, diese aus etlichen Stilanklängen (zwischen der Westside Story, dem Broadwaymusical und den „Soldaten“) gemixte und doch stringent organisierte und gemäßigt originelle, dabei erstklassig instrumentierte, vor allem aber: immer packende Partitur mit der Staatsphilharmonie Nürnberg unter Leitung von Lutz de Veer zu erleben. Das Ensemble wurde, ohne Abstriche, am Abend lange gefeiert. Der Rezensent hat nur einen einzigen Besucher gesehen, der das Haus schon in der Pause Richtung Bahnhof verliess. Vermutlich wollte er so schnell wie möglich zu seinem Anna-Nicole-Sonderheft zurückkehren.

Er hatte das Stück vermutlich nicht verstanden – und einen ganz anders erregenden, durchaus gut gebauten zweiten Teil der spannenden Oper verpasst.

Frank Piontek, 4.11.2018

Fotos: © Ludwig Olah