Premiere: 30.9. 2018. Besuchte Vorstellung: 14.6. 2019
Wie doch die Zeit vergeht… Vor knapp 9 Monaten ging die Premiere über die Bühne, nun hat man eine letzte Vorstellung gewuchtet, denn Prokofjews chef d’ouevre ist mit seinem Orchester, dem großen Chor samt Extrachor – der in dieser Choroper wahrlich viel und anspruchsvoll zu singen hat – und der Statisterie, den über vier Stunden reiner Spieldauer und den nicht weniger als gut 60 Solopartien ein wahres Schlachtschiff der Operngeschichte. Umso erstaunlicher, dass es am Ende der Nürnberger Spielzeit noch einmal in einer Sondervorstellung realisiert werden konnte: auf vielfachen Wunsch der Zuschauer, wie es heißt.
Man versteht’s, denn mit dem Intendanz-Einstand hatte Jens-Daniel Herzog, der regieführende Chef des Nürnberger Hauses, einen Coup gelandet und die Belastbarkeit der Institution unter Beweis gestellt, auch wenn hier „nur“ 28 Solisten in „nur“ etwa 40 Rollen eingesetzt wurden. Und wieder begeisterte die rasante Verwandlungstechnik, mehr noch die Vollkommenheit, mit der die Affekte von Liebe und Hass, Sex und Gewalt, Trauer und Tod mit einem bis in die letzten Nebenpartien glänzend besetzten Solistenensemble ausgespielt wurden. Nicht zuletzt gefeiert wurde die phänomenal aufspielende Nürnberger Staatsphilharmonie unter ihrer Leiterin Joana Mallwitz: bisweilen sehr laut, doch nicht lärmend, in den lyrischen Passagen (typisch: die Kantilene Andrejs und die impressionistisch flirrende Frühlingsstimmung auf dem Gut Otradnoje), den meist bösen Walzern, den Kriegskatarakten und den satirischen Episoden immer auf dem genauesten Punkt.
Reden wir über einige Sänger, weil die Produktion beweist, dass es in Nürnberg möglich ist, selbst solch herrliche Monster wie „Krieg und Frieden“, wenn’s glückt, vocaliter lückenlos gut auszustatten. Witzig war ja schon die Ansage: Hatte sich Denis Milo, der glänzende Interpret des Denisow, der ganz am Ende eine kurze, aber umso eindringlichere Arietta zu singen hat, für seinen auch tänzerischen Auftritt im zweiten Bild entschuldigen müssen, weil er vor Kurzem einen Unfall erlitt (hier vertrat ihn Michael Fischer), so vertrat Milo im Schlussbild wiederum seinen Kollegen, weil der wiederum einen französischen Offizier zu spielen hatte, der im Schnee-Finale zu krepieren hat, so dass wir es schlussendlich mit zwei Denisows zu tun hatten. Nicht, dass es wirklich aufgefallen wäre, Prokofjews Personal zeichnet sich ja auch durch viele Kurzauftritte aus – aber bemerkenswert war es schon. Im Übrigen standen neben Fischer noch zwei weitere Mitglieder des Internationalen Opernstudios Nürnberg in kleinen, aber unverzichtbaren Partien, die auch „gemacht“ werden müssen, auf der Bühne: Wie gesagt: Eine Ensemble-Leistung.
Wieder begeistern nicht nur die drei Hauptfiguren. Jochen Kupfer ist als Andrej, vom ersten melancholischen, von Verzweiflungstönen durchsetzten Auftritt über die Borodino-Szene bis zum Sterbebett (und Sterbewalzer), gesegnet mit seinem warmen Bariton und einer schlanken schönen Ausstrahlung – eine ABSOLUTE Idealbesetzung wie die Natascha der Eleonore Margerre, die ein bisschen wie die junge, schöne Romy Schneider aussieht und selbst dann wie ein empfindsamer Engel singt, wenn Natscha sich einen Schwips antrinkt. Nicht nur in ihrer Konfession, die sie als Ausgesperrte vor der Tür des zukünftigen Schwiegervaters Bolkonski tief bewegend anstimmt, rührt sie bis zuletzt. Nun fällt, Prokofjew war halt ein genialer Komponist, auch auf, dass ihr Freudenbekenntnis im Ball-Bild schon von Schmerz beseelt ist…
Der Dritte im Bunde ist Pierre, der gute Mensch von Moskau und St. Petersburg, also Zurab Zurabishvili, ein intelligent artikulierender, mächtiger Tenor vom Scheitel bis zur Sohle, dessen Potenz der inneren Unsicherheit des Pierre Besuchow zu widersprechen scheint. Was mir nun wieder auffiel, waren einige Vertreterinnen einiger sog. „Nebenrollen“, aber was heißt in einem derartigen Panorama-Gemälde schon „Nebenrolle“? Von glänzender, dramatisch eindringlicher Statur die Damen: Martina Dike als strenge und doch mit Natascha mitfühlende Achrossimowa, die sich, höchst bravourös, mit Natascha in ein technisch schwieriges Duett und zuletzt in den Krieg schmeißt, Almerija Delic als zutiefst unsichere, in Konventionen befangene Bolkonskaja, die es nicht schafft, sich vor der verschlossenen Tür ihrer Wohnung der Natascha zu nähern. Wieder bewegend die böse Doppelbelichtung der Szene: links der projektierte Schwiegervater, Nicolai Karnolsky mit Stalin-Bart, der vor seiner Frau die „Gouvernante“ provokativ umfängt, während Natascha sich gerade buchstäblich draußen vor der Tür in Verzweiflung auflöst.
Weiter mit den weiblichen „Nebenrollen“. Betörend auch Irena Maltseva als Hélène Besuchowa, das blonde Gift. Bewundernswert auch die Besetzung der „kleineren“ Partien: die nicht nur stimm-schöne Andromahi Raptis als Peronskaja, die im wie die Achrossimowa mit einem Petroleumkanister in den Krieg stürzt (im originalen Libretto sind’s übrigens zwei andere Rollen: Dunjascha und Mawra Kusminitscha). Bleiben die Männer, allen voran Nicolai Karnolsky, der die, ja: herrliche und herrlich patriotische Arie des General Kutusow herrlich bringt, während die Toten und Verletzten vom Schlachtfeld geräumt werden und sich Andrej und der Verführer seiner einstigen Verlobten ein kurzes und letztes Mal schwerverletzt – in jedem Sinne – in die Augen schauen. Derartige Doppelbelichtungen gibt es, siehe oben, noch öfter: so etwa, wenn sich Pierre vor den monumentalen, patriotischen Schlusschören des ersten und zweiten Teils und auf dem Fest vereinsamt sieht. Bemerkenswert auch der Karatajew des Martin Platz, und auch schön, dass er, im Gegensatz zu vielen seiner Kolleginnen und Kollegen, allein in dieser Rolle agiert – denn ein Gottesnarr ist eben ein Gottesnarr und kein Anderer.
Was für eine technisch glänzende, menschlich bewegende und inszenatorisch gelungene Aufführung! Ein Gruß also ans KBB und die Leitung des Hauses, denn selbstverständlich ist ein Einschub dieses Kalibers, gegen den, rein besetzungs- und bühnentechnisch betrachtet, eine „Götterdämmerung“ wie eine Kammeroper wirkt, ganz und gar nicht.
P.s. Pünktlich zur Aufführung erschien ein kleiner, feiner Symposionsband, das Ergebnis einer Nürnberger Opern-Tagung zur letztjährigen Premiere von „Krieg und Frieden“: „Krieg und Frieden – Konstruktionen von Geschichte(n).“ Das Heft kann zum Dumping-Preis von 3,50 in der Oper erworben werden. Es sei allen Opernfreunden ans Herz gelegt, die sich für die historischen und politischen Hintergründe des Stücks, auch für die Inszenierungsarbeit an Prokofjews Meisterwerk interessieren.
Frank Piontek, 15.6. 2019
Fotos: © Ludwig Olah