Premiere: 2.2. 2019. Besuchte Vorstellung: 26.4. 2019
In der „Walküre“ haben die Helden es noch leicht: Sie fallen im Kampf und werden von der Titelheldin wunschgemäß abgeholt (wenn sie sich nicht weigern wie Siegmund). In „Lazarus“ hat es die der Held gar nicht leicht. Im Gegenteil: Thomas Jerome Newton hat einen zweistündigen Albtraum zu durchleiden, bevor ihm so etwas wie „Erlösung“ zuteil wird.
Wir erinnern uns: Thomas Jerome Newton, so hieß der Alienmensch, der 1976 in Nicolas Roegs genialischem Film „The man who fell to earth“ auf die Erde fiel, um seinen vertrocknenden Heimatplaneten zu retten – und hier unten letzten Endes als Geblendeter zu scheitern. Ein Alien kann sich eben nicht zwanglos an die Erde und ihre Sitten gewöhnen. Newton, das war damals David Bowie, der ein brillanter Maskenträger und Rollenspieler war, sich wohl auch im Alien selber spiegelte. Kurz vor seinem Tod nahm er einen Song auf, der das Musical in nuce enthält: „Lazarus“. Lazarus, das ist der Mann, der zweimal sterben musste, weil er einmal, warum auch immer, von Jesus auferweckt wurde. Im Video sieht man einen geblendeten Mann, gespenstisch hin- und herzuckend auf seinem Totenbett; Bowie wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. 2015 kam auch beim New Yorker Theatre Workshop sein einziges Musical heraus – natürlich nicht am Broadway, sondern am Off-Broadway, denn Bowies Musik ist gewiss nichts für die sog. Breite Masse.
Am Abend verlassen einige wenige Zuschauer die Vorstellung, vermutlich, weil sie Bowies Musik nicht kannten, die, wie die Geschichte, die sich der Dramaturgie einer linearen Erzählung verweigert, mit der gängigen Musical-Ästhetik der Gegenwart wenig zu tun hat. Bowies Musik ist originell, schräg, oft dunkel, harmonisch interessant, gelegentlich auch im bürgerlichen Sinne schön, an diesem Abend auch erstklassig instrumentiert und interpretiert.
„Lazarus“ ist eine Art Fortsetzung des Films von 1976, bewegt sich aber in den Sphären eines traumatischen Nahtoderlebnisses. Figuren aus dem irdischen Leben Newtons erscheinen ihm wie Wiedergänger, ein Mädchen namens Marley, das von Pauline Kästner stimmstark, -schön und schauspielerisch wendig gespielt wird (wir sitzen in einer Aufführung des Staatstheaters, nicht der Staatsoper), soll dem Mann, der nur noch sterben will, die „Erlösung“ verheißen, obwohl sie tot zu sein scheint, der Serienkiller Valentine – höchst „cool“ und kompromisslos gespielt und gesungen vom famosen Nicolas Frederick Djuren, bedroht am Ende auch Newton, nachdem er sich an einem alten Mann (Frank Damerius spielt diesen Michael) und einem futuristischen Musikpärchen (Anna Klimovitskaya und Yascha Finn Nolting als hipplackiertes Superpaar Maemi und Ben) würgend und genickbrechend gütlich tat. Ein Höhepunkt der Aufführung, die zwischen einer Show, einem Schauspiel mit Musik und einer unorthodoxen Revue hin- und herchangiert: wenn Valentine als Bowie-look-alike vom Himmel schwebt und auf Newton zu liegen kommt, um ihm am aggressiven Ende von „Valentine’s day“ lautstark an die Gurgel zu gehen.
„Lazarus“ gruppiert sich um 17 Songs aus Bowies Gesamtwerk, in dem „Heroes“ und „Absolute Beginners“ nicht fehlen, und das doch vom Willen der Autoren, auch des Librettisten Enda Walsh beseelt ist, wesentlich mehr zu bieten als ein Pasticcio populärer Nummern. Es gelang – und dies auch, weil die Inszenierung von Tilo Nest, im Dauerdampf des fleißig hereingeblasenen Bühnennebels, einerseits viele starke Bilder zeigt, andererseits Raum lässt, um die Fragen, um die Bowie in seinen letzten Jahren kreiste, immer wieder zu beleuchten: Warum wurden wir geboren? Wie hältst du es mit Deinem „guten Tod“? Was bist du im Kosmos? Wohin und wie willst du einmal „zurückkehren“? Die Aufführung gibt, naturgemäß, darauf keine – oder doch nur andeutende Antworten, denn jeder stirbt bekanntlich allein.
Sascha Tuxhorn spielt diesen mit seinen schrecklichen Visionen ringenden, zunächst nur gintrinkenden und auf der Parkbank sitzenden, „traurigen und unnahbaren“, dann von seinen Ängsten und Sehnsüchten panisch aufgepeitschten Sterbenden mit Inbrunst, durchaus ohne Erinnerung an den realen Bowie, was die Interpretation von der in anderen Produktionen unterscheidet, es sei denn, man nähme seine wohl absichtlich undeutliche Aussprache als Hommage an Bowies eigentümliche Sprechweise. Die beeindruckendsten Soli singen daneben Djuren, Kästner (ganz wunderbar: ihr lyrisches wie genrehaftes „Life on Mars“) und Lea Sophie Salfeld. Sie spielt Elly, die Frau, die auch „nur“ einen großen Sack voll Liebe sucht, privat und beruflich gescheitert ist und sich in einer verzweifelten wie grotesken Aktion als blauhaarige Marie-Lou verkleidet, um ihrem Pflegefall Newton nahe zu sein. Ansonsten begegnen uns seltsame Rituale der Solidarität: wenn Newton hinfällt, fallen auch die Statisten zu Boden, die zugleich die Musiker und die anderen Spieler sind – und der Gewalt: die drei „Teenage Girls“, die zunächst als rhythmisch nickende Electro-Pop-Ikonen in Rot über die Bühne marschieren und den Helden durch den Abend begleiten, richten in „Killing a little time“ eine Windkanone auf Newton, während sie sein Videobild live auf die Bühne und deren Rand projizieren.
Die Ästhetik des Bühnenbilds (Stefan Heyne), der Kostüme (Anne Buffetrille) und des Lichts (Tobias Krauß) steht immer wieder quer zu den scheinbar vertrauten Klängen, die hier zu den 60ern grüßen („Changes“), dort ein wildes Posaunen-Solo im angedeuteten Fluxus-Stil entbinden („Dirty boys“). Sie machen den Abend auch für den auf Innovationen erpichten Opernfreund zu einem gelungenen. Hinreißend die Posaune (Denis Cuní Rodriguez), wunderbar sonor das Saxophon (Martin Krechlak), souverän das Soloklavier (Kostia Rapoport) – und schön, dass „die Band“ nicht im Hintergrund ihr Ding machte, sondern als integraler Bestandteil der Inszenierung buchstäblich mitspielte: auch im zentralen Bühnenelement, einem runden offenen Turm, der irgendwo dort oben endet, von wo Newton einst herkam, und der auf der oft in Bewegung gebrachten Bühne über dem Partykeller steht, wo einmal, wenigstens einmal, der Bär steppt, in dessen Kinderkostüm sie, das Mädchen, die „Erlöserin“, der Traum und zugleich die Erinnerung an die Frau steckt, die damals ermordet wurde: was ihr offensichtlich ein längeres Traumleben im Hirn des an sich und der Welt dahinsterbenden Newton garantiert und den Wagnerianer daran erinnert, dass Tristan sich im letzten Akt den Auftritt seiner Geliebten vielleicht auch nur imaginiert (wie Jean-Pierre Ponnelle es in Bayreuth inszenierte).
Beginnt der Abend mit dem stummen und wiederholten Auftritt trenchcoatiger Rollkofferschieber, die an eines von Bowies markantesten Kostümen erinnern, endet er mit dem in Stummheit daliegenden, nun endlich gestorbenen (??) Newton. In zwei pausenlosen Stunden zieht ein bildmächtiges Schauspiel mit sehr viel Musik und symbolischen wie konkreten Bildern an uns vorüber, in dem viel Platz ist für Panik und Poesie, Lyrik und verzweifelter „Liebe“ (Bowie mochte das Wort nicht besonders), Krankheit und grotesker Komik.
Also fast wie in einer gelungenen „Walküre“.
Frank Piontek, 27.4.2019
Fotos: © Konrad Fersterer